„Sie waren tot!“, behauptete Aschendorffer spitz. Und das wissen Sie genau.“ Seine Stimme bekam einen herrischen, harschen Tonfall: „Sie haben das intellektuell nur noch nicht verarbeitet.“
„Ihre Arroganz ist unerträglich! Sie setzen die Gesetze der Natur nicht außer Kraft.“
Aschendorffer lachte theatralisch. „Die Gesetze der Natur sind dazu da, dass man sie nutzt. Es tut mir leid, wenn Sie bisweilen nicht folgen können.“
„Halten Sie sich zurück“, zischte Biesthal. Ihr Gesicht war rot geworden, eine Mischung aus Wut und Demütigung. Sie wusste, dass Aschendorffer Recht hatte. Das war das Hauptproblem, nicht Aschendorffers überheblicher Ton. Dieser Wahnsinnige hatte einfach mehr von den Zusammenhängen von Physik, Chemie, Biologie und Neurologie verinnerlicht, als jeder andere Mensch dieser Welt. Und er besaß keinerlei Skrupel, all sein Wissen und all seine Erkenntnis anzuwenden. Frederike Biesthal fand das ebenso abstoßend wie anziehend. Als Wissenschaftlerin faszinierten sie Aschendorffers Experimente. Als Mensch verabscheute sie sie.
„Sie wollen ein Mäuseexperiment an einem Menschen wiederholen“, versuchte sie eine zaghafte Intervention.
„Nur, dass dieser Mensch bereits tot ist. Wenn ich nichts unternehme, dann bleibt er tot. Er kann also nur gewinnen!“ Aschendorffers Logik war bestechend.
Er überlegte kurz und wälzte dabei die Zunge, so dass sich seine Lippen mahlend bewegten. Er musste abwägen, ob er Frederike Biesthal in sein Geheimnis einweihen sollte. Jetzt war er ohnehin schon so weit gegangen, da konnte er auch diesen letzten Schritt noch tun. Schließlich würde er Biesthals Hilfe brauchen, wenn er den Gletschermann in die Gegenwart holte. Biesthal würde still halten. Und mitmachen. Dazu reizte sie das ungeheuerliche wissenschaftliche Neuland viel zu sehr, welches sie mit seiner Hilfe betreten würde.
„Es gibt nicht nur das Mäuseexperiment!“, sagte Aschendorffer leise.
Frederikes Gesichtsfarbe wechselte von rot zu bleich.
„Ich habe es schon mit einem Menschen ausprobiert!“
„Das glaube ich nicht!“
„Fragen Sie Kaymal.“
Biesthal zuckte zusammen.
„Kaymal? ... Sie wollen doch nicht etwa behaupten...? Sie haben Kaymal ...?“
„Nein, nein!“, wehrte Aschendorffer ab. „Nicht Kaymal. Einen seiner Brüder.“
Aschendorffer hatte schon vor einigen Monaten einen Freiwilligen gesucht, um ihn unter Versuchsbedingungen tiefzufrieren und nach 48 Stunden wieder ins Leben zurückzuholen. Bei einem Angebot von 10.000 Euro hatte sich dieser Freiwillige schließlich unter Kaymals nie versiegender Auswahl von Brüdern gefunden.
Aschendorffer führte Biesthal in einen kleinen Technikraum, den er vollgestopft hatte mit Rechnern, Monitoren, Apparaturen aller Art, und führte ihr dort den Film vor, der das Experiment dokumentierte. Frederike Biesthal sah am Ende des Filmes einen nackten Türken dem leicht anrüchig aussehenden Sud entsteigen, der sich in der verkabelten und mit Drainageschläuchen aller Art verbundenen Edelstahlwanne angesammelt und als Nährlösung für die Versuchsperson gedient hatte. Der frisch Wiederauferstandene wurde im Video von einem strahlenden Aschendorffer gewogen, vermessen, abgehört und mit dem institutseigenen Computertomografen durchleuchtet. Er war quicklebendig und bester Dinge. Aschendorffer und das menschliche Versuchskaninchen gaben sich am Ende des Filmes die Hand und grinsten beide in die Kamera, die Kaymal geführt hatte.
„Was sagen sie jetzt?“
„Ich bin sprachlos.“
4
Bowolf wachte vom schrillen Gekreische der Weiber auf. In der gleichen Sekunde war er auch schon hellwach, warf das Fell von sich und sprang von seinem Lager auf. Binnen eines Lidschlags fand er die Orientierung. Das Dorf war in heller Aufregung. Die Hunde kläfften. „Rätiser, Rätiser!“, schrieen die Frauen, und ihre Stimmen waren voller Angst. Die Rätiser also, die Feinde. Ein Überfall. Bowolfs Bewegungen waren sicher und gingen fließend ineinander über. Er griff Bogen und Köcher, die am Mittelpfahl seiner Hütte hingen, schnappte sich die Steinaxt, warf sich den Fellmantel über und stürmte dann mit großen Sätzen wie eine Raubkatze aus der Hütte hinaus in den bitterkalten Winter.
Eine Hütte brannte bereits. Krieger liefen kopflos hin und her. Zwei Männer lagen mit eingeschlagenem Schädel auf dem Dorfplatz. Ihr Blut glänzte rot im frisch gefallenen Schnee. Überall weinende Kinder, heulende Frauen, jemand brüllte Befehle. Die Rätiser verschleppten Frauen aus Bowolfs Dorf. Bowolf überlegte nicht lange. Er war der Häuptling. Er jagte mit gezückter Streitaxt über den Dorfplatz und den leicht abschüssigen Pfad zum Seeufer hinunter. Dort wurde gekämpft. Dort waren die Feinde. Andere Männer liefen neben ihm. Wütend schrieen sie ihre Kampfrufe in die Nacht. Die Feinde antworteten mit Spott und Beschimpfungen.
Bowolf kam zu spät. Er sah es schon von Weitem. Die Feinde saßen bereits auf ihren Pferden, auf die sie ihre weiblichen Gefangenen gezerrt hatten, und galoppierten auf den zugefrorenen See hinaus.
„Hirjeka, hirjeka“, brüllte Bowolf den Kampfruf seines Stammes. Feine Atemwölkchen stiegen auf. Die Luft klirrte vor Kälte. Auf dem Weg zum See lag ein sterbendes Mädchen. Fialla, Stirnmanns zehnjährige Tochter. Die Rätiser hatten ihr die Kehle durchgeschnitten. Fialla gurgelte und spuckte Blut. Ihre Augäpfel quollen hervor, die Pupillen waren vollkommen verschwunden. Mit einem Arm schlug sie zweimal in den Schnee, dann war sie tot.
Panisch blickte Bowolf sich um. Wenn Fialla tot war, wo war dann Seta,Bowolfs jüngste Frau, die in der Hütte von Fialla übernachtet hatte?
Vom Ufer her klang das wütende Gebrüll der Krieger, die hinter den flüchtenden Feinden herliefen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Zwischen den Kriegsrufen wehten die Klagelaute der Frauen durch die Nacht. Manche hatten sich befreit. Manche hatten ihren Widerstand mit dem Leben gebüßt, so wie Fialla. Das rasende Kläffen von Hunden mischte sich unter die Stimmen. Bowolf hastete zurück zum Dorf, hinüber zu den Pferchen, wo die wenigen Pferde des Stammes zusammengetrieben waren. Dem großen Ahnherrn sei Dank, die Tiere standen noch da und schnaubten kalte Nebel in den Nachthimmel.
Bowolf führte Mor, sein treues Pony, aus dem Gatter und schwang sich auf seinen Rücken. „Hirjeka“, rief er dem Mond zu, dann trieb er sein zähes Reittier zum See hinunter. Dem Feind hinterher. Am Ufer riefen ihm die Zurückgebliebenen zu: „Bowolf reite! Es sind zweimal zwei Hände. Stinkende Rätiser. Feige Rätiser.“
„Wieviel Gefangene?“, schrie Bowolf im Vorbeiritt und nahm die Antwort mit: „Eine Hand und zwei. Seta ist auch dabei!“
Der zugefrorene See trug Menschen und Tiere. Bowolf galoppierte. Bald überholte er die kleine Gruppe seiner Stammesgenossen, die zu Fuß hinter dem flüchtenden Feind her waren. Einer rief ihm zu: „Gangam ist ihr Anführer!“
Gangam also. Sein alter Feind. Er trieb das Pferd. Das Eis knirschte unter den Hufen. Immer wieder Gangam. Wie oft schon hatten sich ihrer beider Wege gekreuzt. Der Häuptling der Rätiser, die auf der anderen Seite des gelben Berges lebten, und er, Bowolf, der Häuptling der Mooka, die auf dieser Seite des Berges ihr Dorf und Jagdrevier hatten, sie waren Feinde auf Lebenszeit. Einmal überfielen die Mooka die Rätiser, dann wieder die Rätiser die Mooka. Sie stahlen sich wechselweise Vieh und Frauen und zündeten sich gegenseitig die Hütten an. Diese uralte Feindschaft hatte längst vergessene Ursachen und längst vergessene Täter und Opfer. Das alles lag in ferner Vergangenheit. Aber Krieg herrschte immer. Bis heute.
Normalerweise fanden die Überfälle nur im Sommer und frühen Herbst statt, wenn die Pässe schnee- und eisfrei und die schnelle Rückkehr ins eigene Jagdgebiet gewährleistet war. Waren die Rätiser im Herbst gar nicht auf ihre Seite des Berges zurückgekehrt? Hatten sie die ganze Zeit am See gelauert? Der See war groß. Er bot entlang seiner Ufer viele Verstecke.