Gleichgültigkeit in dieser Frage brauchen sich freilich die Verschwörer des 20. Juli bestimmt nicht vorwerfen zu lassen. Die Akteure hätten sich mit Eichmann durchaus an einem Runden Tisch zur Judenfrage zusammensetzen können, denn auch sie wollten eine Lösung der Judenfrage, eine »Dauerlösung«. Bei diesem Treffen hätten sie Eichmann dann versichert, sie »hätten die Rassengrundsätze des Nationalsozialismus an sich bejaht, hätten sie aber für überspitzt und übersteigert gehalten« (so ein Bruder des Attentäters beim Verhör durch die Gestapo). Diese Einschränkung allerdings hätte Eichmann weniger interessiert als die Durchführungsbestimmungen, die von der präsumtiven Regierung vorgesehen waren. Denn hier hätte er sich wieder auf vertrautem Terrain befunden. »Ich komme immer noch in die alte Tour«, wird er später in Jerusalem sagen, wo ihm vorgehalten wurde, er rede immer noch wie ein waschechter Nazi. Aber genau diese »alte Tour« war von den Verschwörern gefragt. Vertraut gewesen wäre Eichmann nicht nur der Ton der Gruppe (»dass das jüdische Volk einer anderen Rasse angehört, ist eine Binsen-Weisheit.«), sondern auch deren Vorstellung, die Juden in Kanada oder in Südamerika anzusiedeln. Das war nichts anderes als eine Reprise des »Madagaskar-Projekts«, mit dem sich Eichmann 1940 beschäftigt hatte, als er mit der Austreibung der Juden aus Deutschland und Österreich nicht mehr so richtig vorankam. Eichmann jagte, wie er später nicht ohne Stolz bekannte, die Juden aus Sympathie für den Zionismus aus dem Deutschen Reich. Von ähnlicher Zuneigung war die Absicht der Verschwörer durchdrungen, für den Fall, der Putsch gelänge, die Juden nach Übersee zu verfrachten, denn die Welt käme nicht eher zur Ruhe, so ihre Auffassung, bis nicht eine globale »Neuordnung der Stellung der Juden« erreicht sei. Als alte Bekannte hätte Eichmann auch die juristischen Maßnahmen zur Ausgrenzung von Juden im Innern begrüßen können. Eingedenk der von vielen Verschwörern geteilten Auffassung, dass – so ein Stauffenberg–Bruder im Verhör – »die Grundideen des Nationalsozialismus [...] in der Durchführung fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden« sind, besann man sich auf eine nationalsozialistische Grundidee: auf einen Passus des sogenannten 25-Punkte-Programms der frühen NSDAP, in dem einigen »Verdienstjuden«, wie sie später hießen, die Möglichkeit eingeräumt wurde, deutsche Staatsangehörige zu werden. Carl Goerdeler, dessen Handschrift alle diese 1941 formulierten und noch in der Todeszelle bekräftigten Verwaltungsbestimmungen tragen, brauchte nur bei sich selbst abzuschreiben: im Sommer 1934, damals noch Oberbürgermeister von Leipzig, hatte er sich in einer Denkschrift an Hitler für eine »Konsolidierung der deutschen Rassepolitik« eingesetzt. Er forderte Hitler auf, »eine echte Volksgemeinschaft herzustellen«, und hoffte, worauf auch die Naziführung spekulierte, nämlich auf das internationale Einverständnis der Antisemiten: eine gesetzliche Regelung der Judenfrage werde im Ausland »als Selbstschutz kaum beanstandet werden.« Diese Regelung, so riet er Hitler, müsse sich, »unter eiserner Disziplin und unter Vermeidung von Ausartungen und Kleinlichkeiten vollziehen.« Um Schlimmes, nämlich die unkontrollierten Übergriffe der SA, zu verhindern, hatte er damals für Schlimmeres plädiert: ein Sonderrecht für Juden, das die Nazis dann auch zügig verwirklichten. Diese einfühlsame Voraussicht auf die bürokratisch-legalistischen Bedürfnisse der Nazis ist kürzlich als »Versuch der Durchsetzung einer alternativen Politik« in den Titel einer wissenschaftlichen Untersuchung in Deutschland eingegangen.
Eichmann hätte den Verschwörern, die er natürlich alle für Lumpen hielt, aus eigener Erfahrung bestätigen können. Was die Gestapo im Verhörprotokoll mit Geringschätzung vermerkt hatte, nämlich dass sie in ihrer »Einstellung zur Rassenfrage [...] auch nicht über einen einzigen neuen fruchtbaren und konstruktiven Gedanken verfügten.« Neu war keiner der Gedanken, die der als Reichskanzler vorgesehene Goerdeler in einer Denkschrift (»Das Ziel«, 1942) für die Verschwörergruppe formuliert hatte. Neu und nun wirklich originell war freilich, dass die Verschwörer sich Maßnahmen zur Sonderbehandlung von Juden ausdachten, die schon sonder- behandelt, nämlich ermordet waren.
Nicht also die Tatsache ist der Skandal, dass der Sohn des Attentäters Stauffenberg damit drohte, die offizielle Gedenkstätte in Berlin wie den Staatsakt zu boykottieren, wenn dort, wie ihm Rechtsradikale soufflieren, die »Patrioten des 20. Juli mit Landesverrätern moralisch auf eine Stufe gestellt (werden)«, soll heißen, wenn dort auch antifaschistischer Widerstandskämpfer gedacht werden sollte. Er hat mit seinem Protest völlig recht. Denn die Kommunisten hätten, wäre der unwahrscheinliche Fall einer Revolution gegen die Nazis eingetreten, seinen Vater wie alle anderen Militärs zum Teufel gejagt – im besten Fall. Selbst Sozialdemokraten fanden damals noch angemessene Worte, die ihnen kurze Zeit später recht peinlich waren. In der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau schrieb Friedrich Stampfer wenige Wochen nach dem missglückten Attentat: »Nicht nur die Revolution, auch die Konterrevolution frisst ihre eigenen Kinder. Es ist immerhin ein Fortschritt, dass die Galgen schon stehen. Man wird sie noch brauchen.« Man brauchte sie bekanntlich nicht. In Deutschland war es nicht einmal nötig, »die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schützen«, wie Hannah Arendt 1950 in einem Bericht über die Nachwirkungen der Naziherrschaft notierte. »Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.« Zu dieser Zeit hatten die Sozialdemokraten das Wirtschaftswunder noch vor, ein anderes Wunder aber bereits hinter sich, nämlich »das eine große Wunder, dass nach zwölf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anständig geblieben sind«. Diese Zauberformel von 1946 stammt von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei.
Der Skandal in Deutschland heute besteht eher darin, dass niemand – keine jüdischen Gruppierungen, nicht die Reste der antifaschistischen Linken – auf dem Riß beharrt, der irreparabel durch die Geschichte geht. Auch die Gegner und Opfer von einst wollen heim ins Reich, wenigstens heim ins Reich der Erinnerung.
1994
No Business like Shoahbusiness
Hätten sie damals zu ihren Eltern gehalten, dann wären sie vielleicht heute auch irgendwo oben und nicht nur dazwischen. Mit großer Verspätung haben die Linken begriffen, dass die einzig erfolgreiche kriminelle Organisation die Familienbande ist. Die erfolgreiche Mutation der revolutionären Zellen zu Keimzellen des Staates fasste der SPD-Funktionär Glotz einmal in einem vernichtenden Lob zusammen, er sprach von der »zur Standhaftigkeit geläuterten Protestgeneration von 1968«. Trotz dieses Persilscheins benötigte der sozialdemokratische Parteivorstand noch fast zwei Jahre, um die selbst verschuldete Harmlosigkeit der ehemaligen Aufrührer zu honorieren.
Im Frühjahr 1988 traf die SPD mit der Aufhebung des »Unvereinbarkeitsbeschlusses« eine jener richtungsweisenden Entscheidungen, welche die Behauptung unterstreichen, die hundertjährige Geschichte der Sozialdemokratie sei die Geschichte des Aufstiegs von Karl Marx zu Hans-Jochen Vogel. Die Mitglieder des SDS, eines linksradikalen Vereins, den es schon seit 1970 nicht mehr gibt, dürfen diesem Beschluss zufolge also wieder der SPD beitreten. Genau so relevant wäre etwa eine Ankündigung des Finanzministeriums, die Krawattensteuer sei abgeschafft oder die Frustrationsabgabe für Verheiratete werde aufgehoben. Nicht einmal im Traum würde einer der geläuterten Revolutionäre auf den Gedanken kommen, den ehemaligen Verein wiederzubeleben, aber nach diesem Beschluss können sie doch besser schlafen. Denn wie der gläubige Katholik erst die Absolution braucht, um ohne