Zwar ließ sich gegen die Rauner des Nationalen und der Wiedervereinigung mit Polemik wenig ausrichten, aber es bereitete Eike Geisel dennoch großes Vergnügen, die als »Identitätssuche« veredelte Anbiederei bloßzustellen, um zu demonstrieren, wie überaus eifrig die Intellektuellen ihren eigenen Bankrott bewerkstelligten. Vor allem, wenn ihre unheilbare Liebe für den Befreiungskampf des palästinensischen und irakischen Volkes entflammte und sie sich als Nationalisten und Antisemiten entpuppten, befanden sie sich in einer Tradition, die ihrer Überzeugung nach schon lange vorüber war, derzufolge die Vergangenheit verarbeitet sei und die Deutschen aufgeklärt und liberal wie nie. Die Deutschen aber zeigten sich »resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit«.
In den achtziger Jahren fing dann das Geschäft mit der Erinnerung zu boomen an, eine »unspezifische Erinnerungswut« (Clemens Nachtmann) setzte ein, aber die hatte nur wenig mit Einsicht zu tun. »Verordnete Aufklärung«, schrieb Eike Geisel, »ist so unsinnig wie die komplementäre Bereitschaft, an ihr wie durch massenhafte Verabredung organisiert teilzuhaben. Dass die Deutschen mit der nämlichen Betriebsamkeit, die sie einst beim Vernichten und dann beim Vergessen an den Tag gelegt hatten, sich nun an die eigene Vergangenheit machten, diesem Umstand haftet etwas Groteskes an. Erst in der beflissenen Erfassung der Nazizeit kommt Horkheimers Verdikt, er kenne kein verhärteteres Kollektiv in der ganzen Welt, zu seiner vollen Wahrheit. Gemünzt auf die geschäftige Verdrängung der Verbrechen, erfährt jenes Urteil gerade durch die treibende Kraft der deutschen Rückschau eine paradoxe Bestätigung. Denn in der eifrigen Materialsammlung und der sie begleitenden gefühligen Anschauung wurde aus der Besinnung auf den Nationalsozialismus eine neue Besinnlichkeit und der Verstand wurde vom Verständnis abgelöst [...] Gerade die offenherzige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ging reibungslos konform mit wachsendem Ausländerhass und parteiübergreifendem Patriotismus, wohingegen wahrhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einzig darin bestünde, den notorischen Zusammenhang zu kündigen.«
Mit dem Boom der Erinnerungskultur und den sich häufenden Jubiläen von Ereignissen, die Meilensteine auf dem Weg zur Vernichtung der Juden und mit deren Erforschung zahllose Wissenschaftler beschäftigt waren, wurde ein lukrativer Erwerbszweig hervorgerufen: das »Shoabusiness«. Eike Geisel stellte seine Beteiligung an diesem Geschäft, welcher man auch in aufklärender Absicht nicht entgeht, nie in Abrede, zeigte sich vielmehr amüsiert darüber. In einer Notiz vom 14. April 1988 schrieb er mir, ob ich nicht Lust hätte, etwas über Broder und ihn zu schreiben unter der Überschrift: »Die neue deutsch-jüdische Symbiose. Zwei Vernichtungsgewinnler.« Trotz dieses nicht sehr ernst gemeinten Vorschlags: Aus Deutschen wurden Experten, und die Experten meldeten eine Art Copyright auf die »Shoa« an – »Auschwitz bleibt deutsch« –, während andere Experten wiederum jedes kleinere Massaker schon mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gleichsetzten.
Eike Geisels Kritik am deutsch-jüdischen Verständigungskitsch einerseits, der auf Tagungen evangelischer Akademien zelebriert wurde, und andererseits an der weitverbreiteten Auffassung, dass Auschwitz eigentlich eine »Besserungsanstalt« gewesen sei, aus der die Juden geläutert hätten hervorgehen müssen, was leider nicht der Fall war, weshalb die Deutschen glaubten, die Juden ihrer besonderen Fürsorge unterziehen zu müssen, Eike Geisels Kritik an diesen Haltungen hatte einen Ausgangspunkt. Und dieser bestand in seinem immerwährenden Umkreisen und Hinweisen auf das, was die Nazis den Juden angetan hatten, die durch die willkürliche Entrechtung und Erniedrigung in einen Zustand gebracht wurden, in dem sie bereits verwaltungstechnisch ausgelöscht waren, bevor sie dann in den Lagern auch physisch aus dem Leben geschafft wurden.
»Die vollendete Sinnlosigkeit« der Lager schließlich, wie Eike Geisel einmal eine Studie Hannah Arendts über die deutschen Konzentrationslager übersetzte, war eine weitere Besonderheit, die für Eike Geisel Voraussetzung war, um das nationalsozialistische System zu begreifen, die Überzeugung der Nazis, »es sei wichtiger, die Vernichtungsfabriken in Betrieb zu halten als den Krieg zu gewinnen« (Hannah Arendt). Dass dafür bis auf Ausnahmen keine Menschen vonnöten waren mit einem besonders ausgeprägtem Hang zum Sadismus, damit setzte er sich in seinem Film über Eichmann mit dem Titel »Erbschaft eines Angestellten« von 1990 auseinander, der sich in typisch deutscher Tradition auf den Befehlsnotstand berief, der ihn unter anderen Vorzeichen und in der Nachkriegszeit auch zu einem ausgezeichneten und leidenschaftlichen »Judenpfleger« gemacht hätte, wenn es von ihm verlangt worden wäre. Unabhängig davon, dass es sich bei Eichmanns Prozessaussagen um Schutzbehauptungen handelte und er in Wirklichkeit ein überzeugter, ja fanatischer Antisemit war, hätte er unter bundesrepublikanischen Bedingungen eine gegenteilige Bestimmung gefunden, und diese charakterliche Eigenschaft war es, die Eike Geisel in der deutschen Geschichte nachwirken sah.
Für die Vernichtung der Juden waren also lediglich eine funktionierende Bürokratie und ganz normale Menschen aus ganz normalen Familien nötig, die vielleicht die Auswüchse nicht gut hießen, aber dennoch bereit waren, ihren Teil an der Vernichtung der Juden beizutragen, und das war ebenfalls eine wesentliche Prämisse, die das Denken Eike Geisels prägte und die wichtig war in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, wie sie in Politik und Gesellschaft bis in die heutige Zeit hinein geführt wird und die Eike Geisel in der Regel als Versuch wertete, die Opfer mit haftbar zu machen für das, was ihnen angetan wurde. Insofern stand er jedem Versuch der Versöhnung skeptisch gegenüber, denn es war »etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden«, wie Hannah Arendt einmal gesagt hat, etwas, das »nicht hätte geschehen dürfen«, weil sich ein Abgrund geöffnet hatte, der sich der Logik des Denkens entzog.
Trotz Bezugnahme auf das tagespolitische Geschehen wirken Eike Geisels immer auch als Invektiven ebenso wie als Interventionen gemeinten Artikel nie antiquiert. Davor bewahrt sie der sarkastische, manchmal auch ironische Ton, der schon Hannah Arendt in der Eichmann-Debatte vorgeworfen wurde. Ein Ton, der jedenfalls nie weihevoll, selbstgefällig oder bemüht wirkte. Ein Ton, der dazu führte, dass sich Rezensenten seiner Bücher nie besonders wohl fühlten. Empfindet ein Journalist im Neuen Deutschland die »Bösartigkeit des Autors« noch als »wohltuend«, fragt er sich vier Zeilen später, »wie weit Kritik an der israelischen Politik gehen darf, ohne dass er [Eike Geisel] sie als antisemitisch bewertet?« In diesem Punkt war die Presse sehr sensibel. Selbstverständlich war niemand in der aufgeklärten Linken antisemitisch, und wenn dennoch der Vorwurf erhoben wurde, konnte man sicher sein, dass man folgende Begründung zu hören bekam, derzufolge man gar kein Antisemit sein könne: »Einige meiner besten Freunde sind Juden«. Eike Geisel machte sich über dieses jeglicher Logik entbehrende Argument gerne mit dem Bonmot lustig: »Some of my best friends are German«.
Ausgewogene Artikel zu schreiben oder betuliche Vorträge zu halten, wäre Eike Geisel sinnlos erschienen, denn er wollte nicht das Für und Wider abwägen, sondern Reaktionen provozieren in dem Wissen, dass sich im Streit nachhaltiger Erkenntnisse gewinnen lassen und Differenzen klarer werden als in lauer Zustimmung. Seinen Aufsätzen wurde in der Regel »Kälte« und eine »bemerkenswerte Herzlosigkeit« attestiert. Die gleichen Vorwürfe hatte man auch Hannah Arendt gemacht.
Als er am 20. Februar 1991 von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste Hamburg, dem Deutsch-Israelischen Arbeitskreis, der GAL, der Solidarischen Kirche und Konkret eingeladen wurde, an einer Diskussion zum Verhältnis der deutschen Friedensbewegung und Israel teilzunehmen, rief sein »unausgewogener, unfairer Beitrag« (wie er ihn selbst ankündigte) erhebliche Unruhe hervor. Eike Geisel sagte, dass Saddam Hussein zumindest in Deutschland »ein Kriegsziel bereits erreicht hatte. Der Karneval war ausgefallen, und ersatzweise bevölkerten lauter gutgesinnte Menschen die Straßen«. Er wurde als »Kaffeehaus-Zionist« beschimpft, ein Vorwurf, den er mit »Du hast leider nicht die Möglichkeit, den damit verbundenen Gedanken in die Tat umzusetzen. Das ist vorbei« konterte.
Als Konkret in der Ausgabe 8/93 einen umstrittenen Vortrag von Christoph Türcke, den dieser auf dem Konkret-Kongress am 12. Juni gehalten hatte, veröffentlichte, um, wie Konkret schrieb, »eine Versachlichung der andauernden Debatte zu ermöglichen«, da kommentierte Wolfgang Pohrt: »Mir ist der Unterschied zwischen Bewohnern verschiedener Erdteile