Die Redakteure, die er belieferte, waren von der »begnadeten Niedertracht seines gewitzten Stils« beeindruckt. Nur drucken wollte man sie in der bürgerlichen, aber auch linken Presse wie der taz in der Regel dann doch lieber nicht. Die bürgerlichen Medien wollten sich keinen Ärger einhandeln, Redakteure der taz bekamen »Bauchschmerzen« von seinen Artikeln. In Israel hingegen, wo einige Arbeiten Eike Geisels in der Tageszeitung Haaretz veröffentlicht wurden, gab es damals zwar nicht unbedingt eine bessere öffentliche Meinung, aber die Angst vor ihr und möglichen Abokündigungen hatte noch nicht dazu geführt, dass man sich ihr unterwarf und ihre Ressentiments teilte, indem man Verständnis für diese aufbrachte.
Trotz dieser unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Redakteuren, die oft mühseliger waren, als die Artikel zu schreiben, landete Eike Geisel mit einem seiner letzten Texte einen Coup, der im Leben eines freien Autors nicht sehr häufig vorkommt. Eike Geisel hatte das Buch »Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter« von John Sack, eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, in der Frankfurter Rundschau (die taz hatte den Artikel abgelehnt) als »Antisemitische Rohkost« vorgestellt. In der Februarausgabe von Konkret erschien zur gleichen Zeit unter dem Titel »Die Protokolle der Rächer von Zion oder die neuen ›Opfer der Opfer‹« eine ausführliche Fassung.
Noch bevor das Buch ausgeliefert wurde, zog der Piper Verlag es am 9. Februar 1995 zurück. Dieser nunmehr publik gemachte Skandal wurde sogar in der New York Times und der Herald Tribune registriert. In der folgenden ausgedehnten Kontroverse waren die meisten Journalisten trotz der primitiven antisemitischen Töne John Sacks dem Überbringer der schlechten Nachricht nicht sehr freundlich gesonnen, weil viele von ihnen der dünnen These von der Angleichung der Opfer des Nationalsozialismus an die Täter eine gewisse Plausibilität abgewinnen konnten.
Tagesspiegel, Welt, taz, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, ja sogar die Zeit, die den »Opfern der Opfer« nicht nur ein ganzes Dossier widmete, sondern auch einen Leserbrief John Sacks im redaktionellen Teil veröffentlichte, waren sich einig, dass ein tapferer und wegen seiner jüdischen Herkunft unverdächtiger Autor zwar etwas naiv, aber durchaus verdienstvoll das »Tabuthema Vertreibung« behandelt habe, dem man sich, wie es in der taz hieß, »unverkrampft« nähern wollte. Zu diesem Thema nämlich könne man sich »entweder überhaupt nicht, oder wenn, dann (nur) unter permanenter Hinzufügung, dass die Vertreibung letztendlich eine Folge des von Deutschen begangenen Weltkrieges, von Auschwitz und den deutschen Verbrechen sei« (taz), äußern. Der Mühe der »permanenten Hinzufügung« wollte man sich nicht mehr unterziehen, man wollte reden dürfen wie ein Vertriebenenfunktionär, und insofern hat Eike Geisel diesen Journalisten zu ihrem coming out verholfen.
Auf ein nicht mehr realisiertes Projekt verweist der Artikel »Das Ende der Schonzeit« über jüdische Rächer nach 1945, eine Art Exposé für ein Buch, das bei Rowohlt Berlin erscheinen sollte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zunächst Interesse an einem Vorabdruck gezeigt, dann aber doch lieber Abstand davon genommen. Ein anderes Vorhaben, das nicht mehr mit Hilfe des Autors zustande kam, war ein dritter Band seiner Aufsätze, der dann 1998 unter dem Titel »Der Triumph des guten Willens« als seine nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurde.
Dieser dritte Essay-Band war nur einer der zahlreichen Pläne, die Eike Geisel immer gerne schmiedete und von denen er mit einer Begeisterung erzählte, die äußerst ansteckend war. Zuletzt bemühte er sich um einen Lehrauftrag in den Vereinigten Staaten, den er zum einen mit Archivforschungen für sein Buchprojekt über die jüdischen Rächer nutzen wollte, zum anderen hoffte er, mit der Ortsveränderung etwas Abstand von den immer unerträglicher und zäher werdenden Debatten in Deutschland zu gewinnen. Aber daraus wurde nichts mehr.
Es ist etwas einfach, darauf hinzuweisen, dass seinen Artikeln heute aufgrund des weltweit grassierenden Antisemitismus und der Toten in Paris wieder große Aktualität zukommt, aber es ist nicht zu leugnen, dass es tatsächlich so ist, auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit 1995 erheblich verändert haben. Aber gerade in einer Zeit, in der selbst das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin im Nahostkonflikt einen nachvollziehbaren Grund für die »generalisierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden« erkennt, wäre es spannend gewesen zu erfahren, wie Eike Geisel dagegen angeschrieben hätte, denn mit Sicherheit hätte ihm die Krankheit dieser Zeit keine Ruhe gelassen.
Im Sommer 1995 fiel Eike Geisel in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Er starb am 6. August 1997. Am 1. Juni 2015 wäre er 70 Jahre alt geworden. Er liegt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Friedenau in unmittelbarer Nähe von Marlene Dietrich, die er bewunderte und die bis über ihren Tod hinaus in Deutschland als Verräterin galt. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.
Klaus Bittermann
Eike Geisel, 1984 - Foto: Wolfgang Pohrt
Runder Tisch mit Eichmann
Über den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt
1984 wurde Joshua Sobols »Getto« in Deutschland zum ersten Mal aufgeführt. Seitdem wissen zumindest das deutsche Theaterpublikum oder die Leser des Spiegel, dass eine »Art Wahlverwandschaft zwischen Opfer und Henker« existiert hat. Erst 1994 wurde dieser Gedanke zu Ende gedacht. Erst in diesem Jahr wurde die logische Entsprechung zum moralisch zweifelhaften Opfer gefunden: der moralisch zweifelsfreie Täter. Und die Entdeckung des Jahres ist deshalb der »gute Nazi«. Vorher war diese Formel als Verdikt in Gebrauch. Bezeichnet wurde damit das besonders rührige Mitglied einer kriminellen Vereinigung. Seit Oskar Schindler – außen Nazi, innen gut – weiß man es besser. Und dieser Einzelfall hat Appetit auf mehr gemacht. Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollten nun aus besonderem Anlass jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug. Man steckte Schindler in eine Uniform und ließ ihn in Kompaniestärke zum 50. Jahrestag der Offiziersrevolte gegen Hitler als Repräsentanten des »anderen Deutschland« antreten.
Am 20. Juli 1994 wurde in Berlin an historischer Stätte ein ganz besonderer Staatsakt zelebriert. Der Bundeskanzler, immer auf symbolische Gesten erpicht, ob auf den Schlachtfeldern von Verdun oder auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, hatte sich für die historische Feierstunde eine besonders reizvolle Zeremonie ausgedacht. Auf dem Hof des Gebäudes, wo vor 50 Jahren ein Füsilierkommando unter dem Befehl »Legt an!« einige der Verschwörer noch am Abend des missglückten Attentats auf Hitler erschoss, brachte das Wachbataillon der Bundeswehr bei der Gedenkfeier die Gewehre in Anschlag: »Präsentiert das Gewehr«. Ein uniformierter Musikzug blies einen preußischen Armeemarsch dazu.
Mit den jährlichen offiziellen Feiern zum 20. Juli war man bislang nicht besonders