Reich-Ranicki, so ist absehbar, wird zur phantastischen Wunschfigur des ideellen Gesamtantisemiten: Intellektueller, Jude, Kommunist, erst im Geheimdienst, dann Verräter, übt Macht aus, sinnt auf Rache. Ein Ärgernis ist er schon immer gewesen. Doch der Neid auf ihn und seinen Erfolg tritt nun, da Reich-Ranicki dazu dienen soll, den Blick auf die Vergangenheit frei zu machen, als antijüdisches Ressentiment auf. Durchtränkt von diesem war der Neid schon immer. Talent habe er, aber keinen Charakter, hieß es, weil er unterhaltsam ist. Und vorgeworfen wurde ihm von jenen, die sich, wie Walter Jens etwa, als Hüter des Geistes verstehen, er sei ein Agent der Warenwelt, das Literarische Quartett sei so etwas wie ein Verkaufsveranstaltung für Jacobs-Kaffee. So wird von jenen, die nichts als marktgängigen Edelkitsch und Aufklärung von der Stange zu bieten haben, dem im Unterschied zu ihnen brillanten Exponenten der literarischen Zirkulation vorgeworfen, den Tod der Literatur zu verursachen und deshalb für eine Tendenz verantwortlich zu sein, die Reich–Ranicki doch bloß vorgefunden hat. Am Exponenten des Kulturbetriebs wird die Verwandlung von Literatur in Ware beklagt, eine alte Klage der liberalen Ära, »deren Hass gegen den jüdischen Mittelsmann«, so Adorno, »am Ende das unsägliche Grauen bereitete.«
Der zentrale Satz, der in immer neuen Variationen in die Attacken gegen den Literaturkritiker einfloss, wurde gleich zu Beginn des Treibens verübt: In der Fernsehsendung von Tilman Jens im Mai 1994 mahnte eine garantiert doppel-arische Frau Krone–Schmalz: »dass der Richter von heute einst ein Gerichteter war, dürfen wir niemals vergessen.« Oder anders gesagt: das Warschauer Getto werden wir ihm niemals verzeihen. Immer daran denken, Juden verfolgen, weil sie selbst verfolgt wurden. Verfolgung macht das Opfer zum Verfolger. Der Angriff auf Reich-Ranicki ist sozusagen ein Akt der Notwehr. Es ist dies die Angst für ein unabgegoltenes Kapitel der deutschen Geschichte, eine Angst, die Heiner Müller, der geborene Sprecher des Unterbewusstseins in Deutschland, auf die Formel gebracht hat: »Die Atombombe ist die jüdische Rache für Auschwitz.«
Reich-Ranicki ist den Kommunismus losgeworden, nicht aber sein Judentum. Das hängt an ihm wie eine Zielscheibe, auf die sich seit Beginn der Affäre alle eingeschossen haben. Da wird selbst seine Tätigkeit im polnischen Geheimdienst eine bloße Funktion seines Judeseins und nicht als Ergebnis sachlicher Gründe gesehen. In der Aneinanderreihung: vom Getto über den Geheimdienst zum gnadenlosen Richter erscheint das klassische antijüdische Stereotyp: Verfolgtwerden als eine Vorbedingung der Macht.
Sollte irgendjemand freilich nicht gewusst haben, dass Reich-Ranicki Jude ist, dass Juden Opfer und Opfer dazu da sind, geopfert zu werden, dem verschaffte der Spiegel mit einer dem Stürmer nachgeäfften Titelbild Gewissheit, dass sein Unbehagen einem bösartigen Tier galt und demzufolge begründet war. Andererseits freilich war Reich-Ranicki manchen nicht jüdisch genug, und dann gaben sie ihm, wie viele Deutsche das tun, wenn sie auf Juden treffen, Nachhilfeunterricht im Jüdischsein.
Wolf Biermann, vor dessen Zudringlichkeit kein jüdischer Autor mehr sicher ist, ist das beste Beispiel für die Nachäfferei dessen, was als jüdisch gelten soll. Wie einst Eichmann, der beim Besuch eines Konzentrationslagers jüdische Häftlinge beschimpfte, weil sie keine jüdischen Witze erzählen konnten oder die hebräische Sprache nicht beherrschten, also keine richtigen Juden seien, so ging Biermann auf Reich-Ranicki los mit der Vorhaltung, er wisse nichts von jiddischen Dichtern aus dem Getto oder es ermangele ihm an Interesse für die moderne israelische Literatur.
»Wir wissen nicht, was Sie draußen gemacht haben, aber wir wissen genau, was wir drinnen gemacht haben« – mit diesem Satz haben die Gleichgeschalteten nach 1945 Emigranten als Verräter und Deserteure verhöhnt. Was Reich-Ranicki »draußen« gemacht haben könnte, ist trotz aller Enthüllungen über seine kommunistische Vergangenheit eine Frage geblieben, von welcher die verfolgende Unschuld des deutschen Feuilletons heftig gequält wird. In der Wochenzeitung Die Zeit las man die kleinlaute Zwischenbilanz des drängenden Wunsches, überlebende Juden den Deutschen gleichzumachen: »Über die ›vielen Erfolge‹ des Tschekisten Marcel Reich-Ranicki wissen wir praktisch nichts.« Diesem unbefriedigenden Zustand wurde abgeholfen mit einem Buch über Polen, das die kollektiven Ahnungen zur Gewissheit werden lässt. »Auge um Auge«, so lautet der Titel. Und im Untertitel wird versprochen: »Die nicht erzählte Geschichte der jüdischen Rache an den Deutschen im Jahr 1945«. Reich-Ranicki kommt in diesen Protokollen der Rächer von Zion zwar nicht vor, aber in diesem neuen antijüdischen Standardwerk spielt dieser geringfügige Umstand keine Rolle mehr.
1994
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