Während die Namensqualität in der Bundesliga demzufolge um dreiundsiebzig Prozent gestiegen ist, hat sich auch das Verhältnis zur Zeit verändert – zum Besseren, versteht sich. Machten uns die Männer an den Mikrophonen ehedem durch eine gewaltig zu nennende Verwirrung im Geflecht der Zeitkategorien kirre – »Wir haben noch neun Minuten zu spielen. Noch etwa sieben Minuten zu spielen. Noch neunzig Sekunden zu spielen, wenn hier nicht nachgespielt wird«, »noch fünfzehn Minuten sind zu spielen, wobei ich wirklich nicht weiß, weshalb«, »52. Minute, äh, nee, 72. Minute muß es ja wohl heißen« –, so gehen unsere gegenwärtigen Mediencracks die Angelegenheit mit der Zeit abgeklärt und souverän an, denn sie haben allein bei geschätzten hundertzwanzig Fußballfernsehübertragungs stunden pro Woche viel mehr Zeit, sich mit der Zeit zu beschäftigen, und bringen deshalb die Minuten und Sekunden überhaupt nicht mehr durcheinander.
Das kommt der allgemeinen geistigen Reife und Stabilität ungemein zugute. In den Köpfen der Altvorderen herrschte unablässig eine furchtbare Konfusion, kombiniert mit einer erheblich gestörten Realitätswahrnehmung:
»In diesem Moment sehe ich es. Ja, es scheint so. Und ich bin nicht sicher, und ich muß erst einmal schauen, jeder hat einen anderen Standpunkt, ganz gleich, woher er auch immer kommen mag. Wer weiß es schon, wer kann es von hier oben beurteilen. Ich muß einmal schauen. So sieht es von hier aus. Jedenfalls optisch sieht das alles so aus.« – »Und Apel ist es gewesen, wenn ich es richtig gesehen habe. Apel, damit wird das Ganze natürlich noch einmal interessant, oder es kann auch Herget gewesen sein. Ich muß es noch einmal genau – Herget ist es gewesen.« – »Von hier, unserem Standpunkt aus, konnte man, glaubte man, erkennen zu können. Das ist jetzt auch geklärt.«
Das Zaudern, das lausige Lavieren der Radio- und Fernsehrecken ist endlich und endgültig passé. Heute becircen uns televisionäre Zupacker und Klarsprecher wie Waldemar Hartmann, Hans Waldmann, Wolf-Dieter Poschmann und Reinhold Beckmann.
»Warum nicht ein wahres Wort dort, wo es angebracht ist?« lautet ihr Motto, und ihre Unbestechlichkeit, gepaart mit Sachverstand und Wortgewandtheit, hat die Fußballreportage und -moderation auf eine nie gekannte zivilisatorische Stufe gehoben.
»Eine Meldung ist eben eingetroffen, in der es heißt: Am Wochenende tut sich gar nichts« – mit einer solch faden Nachricht werden wir im Verlauf der gerade angelaufenen Saison 2007/2008 nicht behelligt werden, und unser irisierendes, prächtiges Fußballfernsehdecoderzeitalter wird auch nicht mehr aufwarten mit schmählichen Peinlichkeiten, wie sie Ror Wolf, der große, melancholische Historiker des deutschen Fußballs, in seinem Hörspiel Schwierigkeiten beim Umschalten leider, leider hat verewigen müssen:
»Verbunden bin ich wieder mit meinem Kollegen Fritz Danko im Moselstadion in Trier. Wie lautet das Endresultat? – – Fritz Danko? – Ja, hier ist Lachmund! Ich möchte wählen hier am Apparat! – Oh, ja, dann ist das eine Fehlschaltung. – Das is’ ’ne Fehlschaltung, ja. – Dann entschuldigen Sie bitte. – Bitte. – Äh. – Hallo? – Ja, Fritz Danko? – Hallo? – Hallo? – Ja, ich hör’ Sie. – Jaa, äh, wir hatten eine Fehlschaltung eben, äh, wie, äh, lautet das Schlußresultat? – Die Tore nannte ich Ihnen bereits, ein verschossener Elfmeter von Blechschmidt in der ach … – Hallo? Ja, also, meine Damen und Herr’n, ich glaube, da im Trierer Moselstadion klappen die Leitungen … – zu diesem 3:0 gekommen ist, man muß sagen, sondern es ist eben psychologisch einfach heute alles gelaufen, und aus diesem Grunde hatte [N. N.] auch nicht mehr die Mittel, gegen diese Betondeckung der Trierer erfolgreich zu sein, zumal … – Ja, schönen Dank, Fritz Danko! – … ein hervorragender Mann im Tor stand. – Ja, schönen Dank für diesen Kurzbericht.«
Nichts zu danken. Denn früher war wirklich alles schlechter.
Edmund Stoibers Welt des Fußballs
Der Vorletzte kriegt vom Letzten einen Tritt in die Achillesferse verpaßt. Das ist das Gesetz des Lebens, und weil sich der Fußball im Leben spiegelt, ist es das Gesetz des Fußballs.
Der natürliche Zusammenhang zwischen Hack- und Sozialordnung war Edmund Stoiber aufgegangen, nachdem er auf der Penne nach einer herben Niederlage im Zicken, einer Art Schulbankfußball, die er im Grunde ordentlich beherrschte, anständig einen auf die Mütze gekriegt hatte. Seither lautete sein Motto: »Kämpfen, kämpfen, kämpfen.«
Edmund, der sich geschworen hatte, nie mehr zu verlieren, merkte geschwind: »Es wird besser, es wird besser, es wird besser!« Und plötzlich, nämlich ein paar Jahrzehnte später, konnte er konstatieren: »Wir spielen absolut in der Champions League.« Woraus er ableitete: »Ich lasse mich nicht von Vereinen, die in der zweiten Liga spielen, kritisieren.«
Vereine, die im Unterhaus des deutschen Fußballs herumkrebsten – wie die Münchner Löwen, der Lieblingsklub seines besten Freundes Theo Waigel –, gingen Edmund Stoiber, dem Vorsitzenden des Verwaltungsbeirates des FC Bayern, verständlicherweise ziemlich auf den Senkel. »Schulden, Schulden und noch mal Schulden« machten die, ein Umstand, aus dem der Chefvisionär der deutschen Champions League die Konsequenz zog: »Für diese Politik darf es keine Verlängerung geben!«
Die Grundfragen des Fußballs, des Lebens und der Politik drängten sich Edmund Stoiber, der ein echter Crack im Torwandschießen war, auch während seiner Wahlkampfreisen auf, die er als seine »persönlichen Fußballweltmeisterschaften« bezeichnete. »Wo is’ na des Tor eigentlich?« brummte er, bei diversen Kicks vor Kameras Entspannung suchend, des öfteren in Richtung seiner Karin, die er einst am Fußballplatz in Geretsried kennengelernt hatte. Da wies sie dann auf ein Tor zehn Meter vor ihm, und Edmund hatte die Orientierung wiedergefunden: »Ich will da rein.«
Aus der Haut fahren konnte der politische Libero Edmund Stoiber, der freie Mann vor den Ausputzern Beckstein, Sauter, Söder und Huber, wenn man die deutsche Nationalelf allzu heftig und deftig schlechtmachte und in Grund und Rasen redete. »Verwechseln Sie bitte Deutschland nicht mit Botswana!« rief der talentierte Ski- und Rhönradfahrer die Miesmacher zur Räson, und den notorischen Gammlern aus dem Milieu der Globalisierungsgegner erklärte er während einer Wahlkampfrede am 10. August 2005 in Hamburg: »Wer Weltmeister werden will, muß Brasilien schlagen und nicht gegen Brasilien demonstrieren!«
Um den ersten WM-Sieg einer deutschen Auswahl gegen die Seleção vor Ort mitzuerleben, war der ehemalige A-Klassen-Libero vom ASV Kiefersfelden und vom Ballclub Farchet drei Jahre zuvor zum Finale der Fußballweltmeisterschaft im Yokohama International Stadium gereist. Anders als Kanzler Schröder, der in der Ehrenloge der Großkopferten dieser Welt herumfläzte, gesellte sich Edmund Stoiber, der Mann des kleinen Mannes, mit Schlachtenbummlerschal und zwei Deutschlandpapierfähnchen zu den Passivsportlern auf einer hundsnormalen Tribüne.
Als Bernd »Schnix« Schneider in der ersten Halbzeit zum wiederholten Mal vielversprechend schneidig aufs brasilianische Tor zuschnurrte, raunte der Kanzlerkandidat, der, wie die Zeit geschrieben hatte, »den Doppelpaß verhindert hatte«, seinem linken Nebenmann – und potentiellen Wähler – ins Ohr: »Schröder hat zu der jetzigen Chance nichts, aber auch gar nichts beigetragen.« Und nachdem Miroslav Klose etwas eigennützig eine weitere Gelegenheit versiebt hatte und die deutsche Anhängerschar in ein großes Wehklagen verfiel, mußte er ihr wirklich ins Gewissen reden: »Sie haben hier eine unverantwortliche Kakophonie.«
Ronaldo bereitete, wie man weiß, dem Spuk durch zwei Treffer ein Ende. »Rimini oder Hannover ist wirklich nicht die deutsche Schicksalsfrage«, durchwehte den FCB- und Deutschlandfan Edmund R. Stoiber kurz vor dem Abpfiff ein gewichtiger Gedanke. Aber der Kanzlerschaftsanwärter, der daheim in Wolfratshausen jeden Sonntag im Garten einen Birnbaum ausspielt und eine Hecke ins Leere laufen läßt, riß sich am Riemen und sinnierte flugs: Das hier ist ja Yokohama! Und sprach wehmütig zu sich selbst: »Das Spiel ist aus!«
Ja, das Spiel war aus.
»Wir