Doch Nachfolger des gentilen Ottmar Hitzfeld wird ausgerechnet Jürgen Klinsmann – jener Ex-Bayern-Profi, der schon von 1995 bis 1997 jedem halbwegs moralisch und geistig gerüsteten FCB-Anhänger mit seinem permanent stolz durch die Gegend getragenen Spießerrevoluzzertum auf den Senkel gegangen war und in seinem affig-egozentrischen Gebaren auf dem Platz jede humane Anmutung vermissen ließ.
Abgesehen davon, daß wir uns doch fragen, wer den neuen Jogi Löw an seiner Seite geben könnte (denn Klinsmann, das vergißt man gerne, ist gar kein Trainer, sondern ein Suppenverkäufer), erschaudern wir bereits jetzt angesichts der neuen Stufe, die die mediale Eskalation in München erklimmen wird. All den läppischen, zum Teil aufs würdeloseste inszenierten Krawall, den Hoeneß und der zerebral offenbar durchgebrutzelte Rummenigge anzetteln werden, sobald Klinsmanns Team »einmal in Folge« (Diego G. Buchwald) verloren haben wird, malen wir uns als Mischung aus Heavy-Metal-Musikantenstadl, Kegelvereinsjahreshauptversammlung, Gemeinderatssitzung in Dachau-Süd und vor allen Kameralinsen der Republik live ausgetragenem Kabinettszickenzoff im Stile Merkel contra Beckibär aus. Und moderieren darf den ganzen Schlamassel Dieter Bohlen.
Ich sitze gerade in Lissabon und lese Fernando Pessoa. »Im heutigen Leben gehört die Welt nur den Narren, den Grobschlächtigen und den Betriebsamen«, schrieb er im Buch der Unruhe. Was soll man denn noch sagen?
Kulturkwatsch oder: Der Straßenkehrer in mir
Nach einem mal wieder zu kühnsten Träumen Anlaß gebenden Sieg der Eintracht gammelten wir zu fünft vor der Gaststätte Kyklamino im Gallusviertel herum und rauchten.
Wir nahmen den Unfug der Raucherbekämpfung und -demütigung vergleichsweise gelassen, denn der Fußball, der laut einer These des Adorno-Schülers und Soziologen Dieter Bott die Herrschaftsunkultur der »Sportifizierung« sämtlicher Alltags- und Lebensbereiche in den vergangenen Jahren am nachdrücklichsten durchgesetzt hat, verkleistert die Sinne und den Verstand. Massenkultur homogenisiert nahezu stets und ist deshalb ein nie stockender Motor der Vernebelung und Formierung des Bewußtseins.
Wir plauderten, ergebnisbedingt zwischenzeitlich versöhnt mit der widrigen Wirklichkeit, über die Auspizien der Adler, da zog Heike ein paar Kärtchen aus der Jacke und verteilte sie. Rote Kärtchen. »Müll macht schlechte Laune«, stand auf der Vorderseite, und auf der Rückseite war zu lesen: »Wer seinen Mitmenschen Schmutz vor die Füße wirft, wird zukünftig zur Kasse gebeten. Da gibt es kein Pardon.«
Ich dachte kurz an die Zeitschrift pardon, aber hier handelte es sich nicht um einen Scherz. »Ausgeleerter Aschenbecher 35 €«, »Essensreste 35 €«, »Einwickelpapier 20 €«, »Zigarettenkippe 20 €«, »Handzettel 20 €« – Frankfurt, daran besteht kein Zweifel mehr, Frankfurt, die ehemalige Stadt der antiautoritären Revolte, mausert sich gerade zum Paradies für habituelle Blockwarte, und über die pestilenzialische Semiotik des Fußballs – die Rote Karte – wird uns diese segensreiche Entwicklung vor Augen geführt.
»Was kostet es, seinen ganz persönlichen Atommüll auf die Frankenallee zu pfeffern?« fragte Stefan. Heike wußte es nicht.
Das ist unsere Zeit, das ist von Frankfurts Tradition einer profunden Skepsis gegenüber den alltags- und politkulturellen Zumutungen geblieben. Der »progressive Alltag« (Chlodwig Poth) wird von sportiven Spießern, von engagierten Müllinspektoren und -sammlern beherrscht, deren Triebenergie sich darauf richtet, den Raum, der den Banken und Konzernen und ihren Handlangern gehört, sauberzuhalten, um den Schein von Zivilität zu wahren. Als zeigte die nicht weggeworfene Bierdose oder die nicht weggeschnippte Zigarettenkippe anderes an als den Triumph der Hörigkeit, des Straßenkehrers in mir.
Wahrscheinlich kriegen wir hier demnächst auch noch eine »Neue Müllkultur« verabreicht. Das wird überdauern von der Kritischen Theorie – via Habermasens »Neue Unübersichtlichkeits«-Diagnose. Sehr schön. Endlich Ordnung. Wie bei der Eintracht.
Bertholds Blutwurstgrätsche
Unsere Zeit, die vor sich hin gurgelnde Gegenwart, gibt einem ja ohne Unterlaß Anlaß genug, schon nach dem Aufwachen derart grandios gelaunt zu sein, daß man die Abwicklung der Existenzpflichten mal wieder einen Tag lang lieber bleibenlassen möchte. Wenn einen dann obendrein aus dem zwecks Ablenkung von den Verwehungen in der eigenen verkarsteten Rübe eingeschalteten Frühstücksfänseh, dieser grausamsten aller zivilen Foltermaschinen, irgendein brillanter Bundesligamanager anquakt oder irgendeine akute Trainertristessevisage anrempelt, ist bereits um 8.37 Uhr endgültig alles zu spät. Da hilft im Grunde nur noch der Nottrunk, dem man sich geflissentlich nicht anheimgibt, oder die durchlauchtige Depression.
Aber dann passieren manchmal seltsam schöne Dinge, ja wenden dieselben sich zum Besten, an Abenden etwa, an denen man mit den Kollegen Stefan Gärtner von der Titanic und Martin Maria Schwarz vom gelobten Kulturkanal des Hessischen Rundfunks in der Frankfurter High-End-Apfelweinwirtschaft Klabunt auf dem kleinsten Lesepodium der Welt hockt und stundenlang forciert unsinnig über Fußball babbelt – unter Zuhilfenahme allermodernster und simultan -marodester Videoprojektions- und CD-Einspielungstechnologie sowie in Begleitung allerfeinster Stargäste.
Soviel Selbstbehudelung muß hier leider sein: Die »Blutwurstgrätsche«, wie die unregelmäßig organisierte, traditionell mit einem Sack schlechter Offenbach-Witze gespickte und im Auftrag der Robert-Hoyzer-Stiftung runtergerobbte Veranstaltung heißt, ist mir zum Labsal geworden. Bislang waren u. a. Rudi Brückner, Horst Tomayer, Dragoslav Stepanović und Nia Künzer zu Gast, und neulich beehrte uns Weltmeister Thomas Berthold, der Hanau-Frankfurter Bub, der als technisch hochbeschlagener, gleichwohl allzeit splitterholzunerbittlicher Verteidiger an drei WM-Endrunden teilnahm, in dreihundertzweiunddreißig Bundesligapartien immerhin zweiundzwanzig Tore schoß und ungezählte Rekorde im Einstreichen von Roten Karten aufstellte.
Seinen berühmtesten, ja eindrucksvollsten Platzverweis fuhr er im WM-Viertelfinale gegen Mexiko am 21. Juni 1986 in Monterrey ein, nachdem er seinen widerspenstigen Widersacher nach einem Laufduell mit der Manschette, die seinen wahrscheinlich vom Bierkrugstemmen lädierten rechten Arm zierte, im Fallen niedergestreckt hatte. Berthold kommentierte die Szene bei uns ausgelassen selbstironisch und heiter und setzte im Verlauf des ausufernden Geplauders eine gelungene Pointe nach der anderen. Der ehemals zum arroganten Stinkstiefel par excellence erkorene Weltklassemanndecker, der bei der Eintracht, bei Hellas Verona, beim AS Rom, bei Bayern München und beim VfB Stuttgart diente, ist ein Erzähl- und Unterhaltungsnaturtalent, das sich nicht scheut, vor Publikum in Anspielung auf seine FCB- und Bernhard-Langer-Tribünensaison 1992/93 Minigolf mit einem Kochlöffel und einem Ball aus Aluminiumfolie zu spielen, die furchtbaren WM-Songs von 1986 (»Mexico mi amor«), 1990 (»Wir sind schon auf dem Brenner«) und 1994 (»Far Away In America«) über sich ergehen zu lassen, die Thomas-Berthold-Ähnlichkeitsmedaille für kühnes Kaugummikauen während des Abspielens der Nationalhymne zu verleihen und aus dem Bauchladen des Spitzenspielerlebens zu schnacken.
1990 habe man, erzählte Berthold, den WM-Titel ohne eine einzige Taktikbesprechung gewonnen. Bekkenbauer habe gewußt oder einfach behauptet, daß man unschlagbar sei – und fertig. 1994 hingegen, unter seinem Nachfolger Berti Vogts, sei bereits während der desaströsen Vorbereitung klar gewesen, daß die USA-Reise frühzeitig enden würde. Einen unfähigeren Trainer als Vogts, so Berthold, habe er vorher nicht und danach nicht mehr erlebt.
Die offizielle Darstellung der Weltmeisterschaft 1986 bedürfte gleichfalls erheblicher Ergänzungen. Denn dazumal lief offenbar wirklich alles wunderbar aus dem Ruder. Nachdem sich Beckenbauer für Toni Schumacher als Nummer eins im Tor entschieden hatte, habe Uli Stein, versicherte Berthold, vor versammelter Mannschaft verkündet, ab sofort Urlaub zu machen – und anschließend auf der Bank hingebungsvoll sonnengebadet und nach Herzenslust geraucht, ohne daß Beckenbauer eingeschritten sei. Der Kaiser besaß schlichtweg keinen Mumm dazu.
Das hoffnungslose