Lolitas späte Rache. Ulrich Land. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Land
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944369655
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von Moospelz zu Moospelz, von Grasbüschel zu Felsbuckel zu Wurzelknorz. Bis sich Vater Nabokov völlig außer Atem seinem Sohn in den Weg stellte und ihn mit strahlenden Augen ansah. Nabokov junior machte ein grimmiges Gesicht und versuchte, an seinem Vater vorbeizukommen und die Jagd fortzusetzen. Der Senator jedoch stand zwischen zwei Bäumen, wodurch die Spannweite seiner ausgestreckten Arme noch erheblich vergrößert wurde. Stand dort und schlug nach Pfauenart das vitruvianische Rad. Zur Vollendung der feierlichen Popen-Pose fehlte nur noch das unter den ausgestreckten Armen wallende Messgewand. Er atmete tief ein und holte zu einer seiner, dem kleinen Vladimir wohlbekannten Predigten aus. Ohne allerdings abzuwarten, bis sich sein von der wilden Jagd abgehetzter Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte. Untermalt von pfeifendem Hecheln und von Lachanfällen geschüttelt, posaunte er in die Welt hinaus: »Hiermit halten wir in aller Feierlichkeit für die Nachwelt fest, dass Vladimir Vladimirowitsch Nabokov und sein Vater Senator Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov, heimgesucht von entzückenden Verzückungen über jede verrirrte Schönheit, die sie bei sonntäglichen entomologischen Erkundungszügen auf Wyras taunassen Schmetterlingsweiden anlocken konnten, und über jedes taumelnde Juwel, das sie von hinnen segeln sahen, dass die Herren Nabokov junior und senior hier an diesem geweihten Ort ihren Odem vor lauter Glück aushauchten. Unter Hügeln von Fliederblüten. Flankiert von einem flatternden …«

      »Papa, der Käscher ist kein Weihrauchfass! Und der Wurzelstock keine Predigtkanzel.«

      Geschüttelt von einer wüsten Lachsalve hobelte der Senator über den Einwand seines Sohnes hinweg und setzte noch mal an: »Flankiert von einem flatternden Spalier aus Kohlweißlingen und Golddickköpfchen. Und nächtens überschattet von Schwalbenschwanzschwärmen, von Perlmutter- und Satyrnymphchen, von Moorbunt- und Höckereulen, und was der im Mondlicht schillernden Nachtfalter mehr sein mögen. – Gott selbst möge sich der beiden Herren …«

      Jetzt aber erhob der kleine Nabokov noch mal seine Stimme und schrillte dazwischen: »Wenn du so laut redest – du vertreibst sie ja! Sieh dir das an! Weidenbohrer und Grüner Birkenspanner, Kopf an Kopf! Traumschön.«

      Der Senator grinste seinen vom Jagdfieber vollkommen elektrisierten Sohn an, klatschte plötzlich donnernd in die Hände und fuchtelte – die edle Haltung des vitruvianischen Menschen völlig missachtend – mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten durch die Luft. Sofort erhoben sich ganze Geschwader von Schmetterlingen und taumelten eilends davon ins Dunkel des Kiefernwaldes. Vladimir traten die Tränen vor Wut und Enttäuschung in die Augen, und, um nicht losheulen zu müssen, stieß er »Warum machst du das?« hervor.

      »Es gibt Falter, mein Sohn, die muss man fliegen lassen. Um ihre Schönheit zu retten«, grinste der Vater.

      »Aber ich wollte sie doch gar nicht fangen. – Nun sag schon! Du hast sie vertrieben, damit ich sie nicht angucken kann … du bist gemein … Warum gönnst du mir diesen wunderbaren Anblick nicht!?«

      Vater Nabokov schüttelte sich vor Lachen. Schüttelte sich vor Lachen.

      7.

      Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.

      Mitte Januar 1991.

      Ein paar Tage waren ins Land, in den See gegangen. Sie hatte sich, ohne recht zu wissen, wieso eigentlich, wieder einigermaßen beruhigt. Vielleicht, dachte sie, vielleicht ist es tatsächlich so, dass man im Alter ähnlich schnell vergisst wie als Kleinkind. Bewundernswert, wie die kleinsten Zwerge, zack, umschalten von tieftraurigtränenreicher Bestürzung in glockenhelles Lachen. Und umgekehrt. Praktisch willenlos. Ausgeliefert ihren momentanen Eingebungen. Sie nickte, lächelte. Blickte auf den See hinaus.

      Heute ein wüstes Treiben dort draußen. Der Wind, der von den Bergen kalt herunterschlug, heizte den Wellen ordentlich ein und verwandelte den ansonsten wochenlang spiegelglatten See in ein schäumendes, schwarz-weißes Inferno aus sich überschlagenden Wogen, die auf die drüben am Steg vertäuten Jollen und Yachten eindroschen, die man versäumt hatte, für den Winterschlaf aus dem Wasser zu hieven. Der grimmig kalte Wind ließ die Takelage an den Masten rasselnde Trommelwirbel veranstalten, zupfte und zerrte an den Antennenkabel-Harfen, spielte den Schneepeitschen, die sich über die leergefegte Hotelterrasse und die seitlich aufgestapelten Sonnenstühle hermachten, zum Tanz auf. Entfachte selbst in den flachen Pfützen des Yachthafenplatzes eine klatschende Brandung. Konnte ihr hier oben nichts anhaben. Unterm Dach des mondänen Hotels. In ihrem sicheren Krähennest, von wo sie den entfesselten Gewalten beim weißen Höllentanz zusehn konnte, ohne fürchten zu müssen –

      Plötzlich wusste sie, sie war wieder da.

      Stand hinter ihr. Regungslos.

      In der Mitte des Zimmers.

      War wieder auf unerfindlichen Wegen hineingeschlüpft.

      Sagte nichts.

      War aber da.

      Um die gespenstische Stille zum Verstummen zu bringen, ergriff diesmal Véra selbst die Initiative und schwadronierte, ohne den Blick vom Schnee- und Seespektakel abzuwenden, auf das Phantom in ihrem Rücken ein: »Wenn Sie jetzt mal so langsam die Freundlichkeit hätten, mir zu sagen, was Sie eigentlich von mir wollen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Gesetzt den Fall, Sie sind heute wieder ein bisschen gesprächiger als bei Ihrem letzten Auftritt.«

      »Wir warn doch schon beim Rechnen anjekommen. Richtich?«, fragte Belinda und gab sich selbst die Antwort: »Richtich, warn wir. Un zwar bei Hundertausend. Stimmt det? Stimmt. Plus Informationshonorar un Bestsellerzulage. Sagn wir also, na, sagn wir 300.000 Dollarsse. Wa? Seit jeschlag’nen fuffzig Jahr’n überfällig, bei ’nem anjenomm’nen – zu Ihren Junsten ma niedrig anjenomm’nen – festen Zinssatz von 4%, Zins un Zinseszins: 2.132.005 Dollarsse. Abjerundet zwee Million. Könn Se jern nachrechnen«, triumphierte Belinda. »Zwee Million bei 4%, wa?, die werfen een Tageszins von jut 233 Dollars ab. Jeder Tach, den wir also länger ins Land jehn lassen, kost Se Bares, Juteste.«

      »Machen Sie, dass Sie rauskommen.Und zwar sofort! Oder …« Sie schleuderte einen ihrer Hausschuhe über die Rückenlehne hinweg dorthin, wo sie Belinda vermutete, ohne sie gesehen zu haben. Das wütende Geschoss verfehlte nur knapp sein Ziel. Sie hätte nie gedacht, dass sie auf ihre alten, auf ihre uralten Tage zu solchen Mitteln würde greifen müssen. Sie nahm den Hörer des Telefons auf, das ihr der Page nach dem letzten Überfall auf den Teewagen neben ihrem Seesichtsessel gestellt und mit einem ellenlangen Kabel ausgestattet hatte. Sie versuchte sich eben – eine in der Aufregung nicht grade leichte Übung – auf die dreistellige Nummer zu besinnen, die ihr der zuvorkommende junge Mann genannt hatte, als Belinda mit schneidend leiser Stimme noch mal ansetzte. So dicht an ihrem Ohr, dass sie die Atemluft auf der Haut säuseln spürte.

      »Wissen Se nämmich wat? Wir komm ooch nich aus Dummsdorf! Ihr Jötterjatte, wenn meene Olle sich nich falsch erinnert hat, nach all den Jahrn – Ihr’n Mann, Nabokovsche, det war doch der mit dit Muttermal inner rechten Leiste, direkt am … Se wissen schon … stümmt doch, wa? Knorke, wat ick so allet weeß, is nich so? Wa? Wirds Ihn’n bissken blümerant. Oda seh ick dit falsch?«

      Emsig zwitschernd und ohne freilich die Antwort abzuwarten, tat dieser schräge, dieser bunte Vogel drei, vier Schritte. Véra Nabokov wusste, das bedeutete eine Wendung. In was für eine Richtung auch immer. Sie war sich sicher, dass diese Belinda ihre Lieblingsposition in der Mitte des Zimmers nicht ohne Grund verlassen würde. Und richtig: Belinda kam näher. Raschelte in ihren buntschillernden Röcken, zog aus irgendeiner Falte einen handtellergroßen, silbern glänzenden Metallgegenstand.

      Also doch, schoss es der alten Nabokov durch den Kopf. Also doch.

      »Det wär die andre Möchlichkeit.« Und Belinda, unmöglich, diese Belinda spuckte auf den kleinen Damenrevolver und polierte ihn emsig. »Nich, dat Se uff die Idee komm, ick wollt Se übern Haufen knalln. Dit nich, dann würd ick ja am Ende inne Röhre kieken, inne leere. Nee, ick meene en jut platzierten Schuss anne Stelle, wo’t so richtig, abba so wat von richtig weh tut. Dit würd mir schon reichen. Also bloß so als Andeutung. So zum drüber Nachdenken. Wenn Se vastehn, wat ick meene.«

      Dann wandte die Todesbotin sich ab und ließ Véra Jewsejewna Nabokov allein.

      8.