Lolitas späte Rache. Ulrich Land. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Land
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944369655
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des Jahres ’22 nicht das Geringste zu schaffen hatte.

      Auch wenn Véra die Antwort nicht wusste, so wusste sie doch: Das würde sich aufklären – schneller, als ihr lieb sein konnte.

      3.

      St. Petersburg.

      1906.

      Die Mutter wars, die ihn wieder dabei ertappte. Und sie hatte es doch so oft schon gesagt. Aber so sehr er sich dagegen wehrte, das Zimmer seiner kleinen Schwester – es war wie ein Magnet. Nicht wie! Es war ein Magnet. Er musste, konnte nicht anders, er musste die Tür aufmachen. Am besten, wenn sie mit Mademoiselle Cécile, der Gouvernante aus dem fernen, fernen Lausanne, wenn sie mit Mademoiselle unterwegs war. Dann hatte er freie Bahn. Konnte sich in aller Ruhe an diesem verbotenen Dunstkreis weiden.

      Und heute waren sie losgezogen, die Schwester und Mademoiselle, das wunderbare Sonntagsballett anschauen, hatte es geheißen. Langweilig, zum Kotzen langweilig. Aber konnte ihm nur recht sein. Hoffentlich zog es sich, dauerte ewig. Bis Salewski den Gong fürs Abendessen schlug. Am besten so lange.

      Vladimir drückte behutsam, unendlich behutsam die Klinke runter, als fürchte er, sie, die er in dieser Schatz- und Wunderkammer wusste, aus dem Schlaf zu reißen und eine Geplärrelawine loszutreten, die selbstredend sofort die Mutter auf den Plan rufen würde. Leise gab die Tür nach, lautlos glitt er hinein. Begrüßte ohne ein Wort, nur kurz mit den Augen zwinkernd, die süße Dreierbagage. Aber jetzt galt es erst mal, die Tür genauso behutsam wieder zu schließen. Was genauso, was mindestens so schwer war wie vorhin das Reinkommen. Diese fiebrige Ungeduld in den Knochen. Wenn man so nah davor war. Auch jetzt aber verhielt die Tür sich mucksmäuschenstill, legte sich sanft ins Schloss. Wie geschmiert.

      Die süßen drei sahen ihn mit großen Augen an. Er sog ihren Duft ein, den er bis hierher zur Tür roch. Den Duft der Seife, mit der die Waschmamsell die Kleider der Süßen auf Vordermann gebracht haben musste. Oder hatte sie sie gleich ganz, mit Haut und mit Haar ins Seifenbad getaucht? Zuzutrauen wars ihr. Ein Duft jedenfalls, der ihn an die Blüten erinnerte, die am Ufer in Wyra immer und immer von den schönsten Schmetterlingen umschwirrt und umschwärmt wurden. Nein, keine Erinnerung, es war der Duft selbst! Der Duft der Schmetterlingsweide. Der das Fieber sprunghaft ansteigen, den Schweiß zwischen den Fingern sprudelnd hervorquellen ließ.

      Vladimir zwang sich, noch einen Moment zu verharren. Und zu lauschen. Er legte das Ohr ans alte Holz der Tür: kein noch so leiser Laut im Korridor. Nichts. Das schönste Stillschweigen. Die Stille, die die kleinsten Geräusche erst möglich machte, die einen den Flügelschlag der Falter hören ließ.

      Noch einen kleinen Sicherheitsdoppelmoment.

      Dann wagte Vladimir ein paar erste Schritte in Richtung der kleinen Truhe, auf der die drei zwischen allerlei Getier, Spitzentüchern, hölzernen schnörkelverzierten Matrjoschkas saßen. Stillstarr und brav. Wie sie ihn voller Erwartung ansahn. Und lächelten. Dieses selige, dieses lautlose, nach Schmetterlingsblütenseife duftende Lächeln lächelten!

      Das war der Moment. Der, auf den er so sehnlich gewartet hatte. In dem ihn diese unglaubliche Glückswallung überkam. Die ihn erbeben ließ, am ganzen Leib zittern. Ein warmes, ein heißes Zittern.

      Jetzt hielt ihn nichts mehr. Alle Vorsicht und Rücksicht weggefegt. Jetzt rannte er die letzten Schritte zur Truhe. Nahm die erste, Annabelle, wie er sie getauft hatte, französisch elegant chique, nahm sie auf den Arm, wiegte sie, hob sie noch schnell, bevor sie glücklich einschlafen würde, hoch vor sein Gesicht, dass sie sich ansehn konnten. Ja, sie war glücklich, die Kleine. War überglücklich in seinen Armen. Das sah Vladimir. In Annabelles Augen. Er küsste sie vorsichtig auf die nach Wolle schmeckende Wange, drückte noch vorsichtiger seine Zungenspitze, nur die allervorderste winzige Spitze, nur ganz kurz, einen winzigen Moment nur zwischen die roten Lippen. Flink, vorwitzig wie das Rüsselchen des Hauhechel-Bläulings auf der Suche nach Nektar. Das erste Mal, er wagte es zum ersten Mal, ihren Mund zu küssen. Auf den Mund! Nicht bloß sittsam auf die Wange.

      Dann legte er Annabelle wieder in seine Arme, wiegte sie noch mal, sanft, sang ihr ein »Baju, bajuschki, baju». Sang. Und sang. Ging zwei, drei Schritte im Zimmer, drehte sich im Kreis, ging weiter, wiegte sie, sang, bis sie eingeschlafen war. Sie konnte die gestickten Augen nicht schließen, das wusste er. Aber sie schlief, auch das wusste er. Schlief glücklich, träumte bereits. Ihren Blütentraum. Er sah es. Und nur er konnte es sehen, konnte es ihr ansehn. Nur er. War und blieb Annabelles und sein Geheimnis, wie er es sah, woran er es sah.

      Er legte sie in die Wiege, die Salewski gebastelt hatte. Vor drei Jahren oder wann. Als Olga geboren wurde. Der winzigen, unförmigen Schwester als Geschenk zur Geburt. Ein Unsinn! Die konnte überhaupt nichts damit anfangen. Die konnte überhaupt nichts. Nur schreien. Man musste, um eine Puppe, drei Puppen samt Wiege zu ergattern, offenbar nur laut genug schreien. Und ausdauernd genug. Ewig. Aber davon wusste Annabelle nichts. Rein gar nichts. Sie schlief friedlich in Olgas Puppenwiege. Zudecken. Aber Vorsicht! Nicht, dass sie wieder aufwachen würde. Endlich nahm er Olgas blau gemustertes Halstuch und legte es auf Annabelles offene Augen, damit sie Ruhe finden würde.

      Er umschloss ihr Glück mit seinem Glück. Mit seinem Blick. Bevor er sich abwandte, um sich Daschjenka zu widmen.

      Daschjenka ließ sich ebenfalls bereitwillig auf den Arm nehmen. Strahlte ihn an – aber –, aber dieses Lächeln war anders. Es lag etwas Angestrengtes darin. Etwas vielleicht, vielleicht sogar Gequältes. Als wäre es der armen Daschjenka irgendwie peinlich. Doch Vladimir wusste, was zu tun war. Er hielt Daschjenka, ohne dass sie es würde bemerken können, etwas, nur etwas auf Abstand und ging mit ihr rüber zum kleinen Ikonen-Altar. Genau die richtige Arbeitshöhe für ihn. Er blinzelte den Ikonenheiligen, der Mutter Gottes, Sophia, dem Heiligen Georg ein »Pardon. Pardon, aber es lässt sich nicht ändern« zu. Worauf er die Ikonenflügel zuklappte, das Laternchen beiseiteschob und die verschämt lächelnde Daschjenka rücklings auf das Spitzendeckchen legte, das Großmutter zu Ehren der Heiligen geklöppelt hatte.

      Vladimir atmete kurz durch. Noch einmal. Saugte so viel Luft an, wie die Lungen aufnehmen konnten. Kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, entschuldigte sich durch ein kurzes Kopfnicken bei Daschjenka und versicherte ihr, dass ihr Lächeln schon gleich wieder das alte Leuchten auf ihr Gesicht zaubern würde, bevor er ihr nun endlich das Leibchen nach oben und das übervolle Höschen nach unten zog, um ihr …

      »Was machst du da?«

      Die Mutter! Sie musste sich reingeschlichen haben. Sich in seinem Rücken aufgebaut, um ihn von hinten zu überfallen. Um ihn zu überführen und vorzuführen wie einen miesen Schurken, der nicht in der Lage ist, den Rückraum des Tatorts abzusichern. Aber all der Ärger übers hinterlistige Anpirschen der Mutter half nicht: Vladimir schoss das Blut ins Gesicht. Er spürte, wie es im Hals pochte, hinter der Stirn, in den Schläfen, in den Ohren trommelte.

      »Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst nicht mit Puppen spielen. Du bist ein Junge! Ein Nabokov. Geh, hol dir zehn Hiebe bei Salewski ab!«

      4.

      Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.

      Mitte Januar 1991.

      Sie schwieg. Und schweigend ging sie die paar Schritte zum Fenster. Nahm sich in ihrer unnachahmlichen, in ihrer unerreichten Impertinenz den Teewagen, der aus gutem Grund, Himmel noch mal, aus sehr gutem Grund direkt neben Véras Sessel postiert war. Zog das Tischchen mit seinen quietschenden, eiernden Rädern irgendwo nach hinten. Richtung Kommode. Véra konnte es nicht sehen – abgeschirmt durch die Rückenlehne ihres Sessels –, nicht sehen, aber hören.

      Offenbar am Ziel angekommen, räumte Belinda all die sieben Sachen, die sich in den letzten Tagen dort angesammelt hatten, vom Teewagen und überantwortete sie irgendeiner Ablagefläche, ja, das musste die Kommode sein. Stillschweigend. Auch die Frage, die selbstredend keine Frage war: »Was fällt Ihnen ein?!«, beantwortete sie nicht. Es war nicht zu fassen!

      Dann kam diese unmögliche Person mit dem Teewägelchen, das wie ein ausgehungertes Katzenmädchen jaulte, wieder nach vorn geholpert, schob es vorm Fenster ein paarmal vor und zurück, bis sie offenbar die geeignete Position gefunden hatte. Augenscheinlich