Regungslos bohrte der Knirps die kurzen Beine ins vornehme Parkett des viel zu großen, kalten Vestibüls. Die Arme hingen kraftlos an ihm herunter. Gänsehaut am ganzen Körper. Weil der Septemberregen natürlich nicht nur die Jacke, sondern auch die Weste und das Hemd, das Unterhemd durchtränkt hatte. Alles, eigentlich war alles klatschnass. Und jetzt fingen auch noch seine Augen an, nass zu werden.
Bevor sich Sturzbäche lösen und ebenfalls über seine kaltnasse Kledage ergießen würden, machte Vladimir einen Schritt. Machte zwei Schritte. Es ging noch. Er war nicht festgefroren. Er ging vorwärts. Keine Ahnung, wohin es gehn sollte, aber er ging. Leise. So leise sich seine quotschenden Schuhe auf dem quietschenden, nach frischem Bohnerwachs riechenden Holzboden fortbewegen konnten.
Schleichen, um des hohen Himmels willen schleichen! Nicht, dass er die finstren Geister weckte, die zwischen den Flügeln der Engelsputten oben unter der hohen Decke auf der Lauer lagen und unter Garantie hämisch grienten! Bloß, um sich im nächsten Moment auf ihn, den pitschnassen Vladimir mit dem aufgebrachten Magen, zu stürzen. Die sich mit der hölzernen Schlange da vorn verbünden und unsichtbar mit ihr um den Treppengeländerknauf kringeln mochten. Die garantiert hinterm Rücken des Pans lauerten, der den Eckpfeiler des Handlaufs beim ersten Treppenabsatz abgab, unbeweglich vor sich hinflötete und versonnen-versponnen lächelte. Die als grau wuselnde Plage in den Fuß- und Zierleisten komplizierte Gangsysteme anlegten, im Verborgenen bohrten und wühlten, das Mauerwerk durchlöcherten und ausmergelten.
Vorwärts schleichend – und schleichen konnte er, der gewiefte Schmetterlingsforscher – durchmaß er den großen Salon, umkurvte immer noch planlos den schwarzglänzenden Konzertflügel, blieb nicht wie üblich vorm Nymphen-Glaskasten des Vaters stehn, nahm keine Notiz von der Porzellanvogelvitrine der Mutter, bestaunte nicht zum abertausendsten Mal die Gemälde-, noch weniger die Fotogalerie der Altvorderen im Durchgang zum kleinen Salon, wo selbst der Samowar zum kalten Stillstand gekommen war. Er blieb nicht still stehn vorm Altar mit den drei Marien-Ikonen, den Großmutter aufgestellt hatte und Tag für Tag umsorgte. Huldigte nicht mit kontemplativer Andacht der Mutter Gottes; bemerkte bloß, dass die Kerze erloschen war. Womöglich grade erst. Der Docht bog sich kohlrabenschwarz auf dem leeren Teller des bronzenen Kerzenständers und schien noch leise zu schmauchen. Allüberall der Tod. El Dorado der quälenden, schwarzen Boten. So tot, bis in den letzten Winkel von niederträchtigen Gestalten der Unterwelt bevölkert, war Vladimir das ansonsten so pulsierende, das – bei aller elterlichen Strenge – immer irgendwie warmherzige Haus noch nie erschienen.
Er fror. Zitterte am ganzen Leib. Fror unter der eigenen Haut.
Als er plötzlich etwas hörte.
Ein Geräusch, das nicht passte. Nicht hierhin gehörte, nicht in diese moribunde Kälte einer Aussegnungshalle, in die sich das ganze Haus verwandelt hatte. Und wieder. Wieder das Geräusch. Knisterte, knackte, raschelte von oben aus dem Bibliothekszimmer, jener Terra incognita, jenem bei derber Prügelstrafe verbotenen Reich, jener versiegelten Geheimniswelt des Vaters. Dieses fremde, ungebührliche Knurpseln: Verlockung und Schrecken! Maßlos anziehend und brutal abstoßend. Zug und Schlag zugleich.
Nie, niemals hätte Vladimir nachgegeben und wäre dem Klang der Versuchung gefolgt, wenn nicht plötzlich dieses metallene Lispeln dazugekomen wäre. Ein eisernes Girren, das sich offensichtlich selbst zu verheimlichen trachtete: das winzige Klirren eines Schlüssels. Vladimir konnte nicht, konnte einfach nicht widerstehen. Die Gänsehaut zog sich augenblicklich glatt. Vergessen waren die überall herumlungernden Herolde des eisigen Jenseits, das hundsgemeine Frösteln unter den klatschnassen Kleidern, das dummdämliche Grinsen der speckigen Putten in ihren Stuckecken da oben, das in Wahrheit doch nichts als sündige Gelüste vertrat. Vergessen all das. Das Blut schoss zurück in Vladimirs Gesicht. Der Magen hielt sich geschlossen. Alle Sinne fixiert.
Und plötzlich bewegten sich seine Füße, die Beine. An unsichtbaren Fäden gezogen. Die Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken. Wohlwissend, wo auf der kurzen Treppe zum Erkerzimmer, zum Bibliothekszimmer die knarzenden Schwachstellen waren, wo er um alles in der Welt auf keinen Fall hintreten durfte. Die sechste Stufe ganz vermeiden! In Teufels Namen. Auf dem Treppenabsatz die scharfe Wende nach links. Von der Treppe abbiegen, wo er nicht abbiegen durfte. Noch nie abgebogen war. In drei Teufels Namen. Noch nie. Oder? Mit den Augen hatte er sich vielleicht, vielleicht mal vorgewagt, allenfalls mit den Augen, als man vergessen hatte, auch den letzten Türspalt noch zuzuziehen. Diese respekteinflößenden, lückenlosen Bücherwände, das bunte Glitzern der sonnendurchfluteten Erkerfenster: leuchtendes Rot, Heiligenscheingoldgelb, preußenfürstliches Blau, das auf den Buchrücken, auf dem Schreibtisch, dem plüschigen Lesesessel spielte. Die geheimnisvolle Glut des geweihten Refugiums, ›meines blauen Bernsteinzimmers‹, wie der Vater es zu nennen pflegte.
Vladimir fand die Tür nur angelehnt, öffnete sie einen winzigen Schlitz. Unternahm noch einen Versuch, sie einen Millimeter oder zwei weiter zu öffnen. Würde sie knarren, würde sie kreischen, wenn er sie so weit öffnete, dass er sehn konnte, woher dieses befremdliche Geräusch kam? Nein. Die Tür schwieg. Ließ es willenlos geschehn, gab stillschweigend nach, ging höchst geschmeidig sogar viel weiter auf, als Vladimir es mit seinem leichten Stubser beabsichtigt hatte. Als wollte sie bereitwilligst ihr streng gehütetes Geheimreich preisgeben, glitt die Tür auf und bot Vladimirs fiebernden Blicken den Hort der kirchenfensterbunten Traumwelt dar. Und gewährte ihm doch gleichzeitig ein Schutzschild, hinter dem er sich beim verbotenen um die Ecke Lugen verbergen konnte.
Doch alles – das Spiel der Erkerfenster, die geschlossenen Reihen der ledernen Bücher, der goldbrokatbezogene Schreibtischstuhl, das Hochheiligste des Vaters –, all das war es nicht, was Vladimirs Blicke magisch anzog, magnetisch auf einen Punkt bündelte, fixierte. – Salewski!
Salewski, der eben etwas in der Tasche seiner Livree-Weste verschwinden ließ, kurz, scheints irgendwie von irgendwem aus dem Konzept gebracht, schnelle Blicke nach rechts, nach links warf, dann die Tür des kleinen, tabernakelgleichen Wandtresors wieder schloss und den Schlüssel dreimal im Schloss kreisen ließ. Bevor er ihn schließlich wieder dem Versteck unterm doppelten Boden der untersten Schreibtischschublade anvertraute. Doch das sah Vladimir schon nicht mehr. Hatte sich – Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken – davongestohlen. Vollkommen aufgewühlt, nicht nur der Magen. Aber hartnäckig schweigend. Allenfalls mit Annabelle und Daschjenka ließ sich über dieses Ereignis reden.
6.
Wyra, 50 Werst südlich von St. Petersburg.
Landsitz der Nabokovs.
Sommer 1911.
Die alte Kiefer unten am Seeufer. Musste vor Jahrzehnten ihre Wurzeln in die Felsritze gebohrt haben. Anfangs nur ein vorsichtiges Abtasten, ein zufälliges Fingern, ein winziges Ausschlagen der Wünschelruten auf der Suche nach frischen Bodensäften. Dann das Verankern der haarfeinen Wurzeln, die in die Tiefe des Felsens wuchsen. Weiter wuchsen. Und mit jedem Millimeter, den sie ins Gestein vordrangen, wurden weiter oben aus den winzigen Kapillarwurzeln Finger, wurden Daumen, wurden Oberarme. Mit ungeheuren Bizepskräften. Drängend, pressend. Und ächzend antwortete der Fels. Wohlwissend, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Trotzdem kämpfte er, hielt dagegen. Bis er dann irgendwann doch ermüdete. Der Riss vertiefte sich, weitere hauchdünne Wurzeln fassten sofort nach, saugten die Säfte aus dem Fels. Wodurch oben die Oberarme noch mehr anschwollen. Der Fels hielt stand. Noch. Bot Halt. Noch. Selbst wenn sich die Kiefer unter der Knute Boreas’, des eiskalten, brettharten Nordsturms, bog und beugte.
Jetzt im Juli hatten sich am Fuß des Baums Preiselbeersträucher emporgezweigt, blühten und verblühten, wechselten sich ab mit Blaubeer- und Trunkelbeersträuchern, spotteten über die beerenlosen Wollgrasbüschel, die aus der Felsritze ans Licht kümmerten. Unten im wurzelaufgepressten Granitklotz waren Regen und Laub zu einer braunen Brühe verschmolzen, die auch dieser Handvoll zerzauster Wollgrashalme als Lebensborn diente. Und Scharen bunter Schmetterlinge anlockte, die mit ausgebreiteten Flügeln die Farbenpracht der Sommerblüten in den Schatten