Das zweite Kapitel »Künste | Kulturen« widmet sich der Frage, welche Beziehungen Computerspiele zu Kunst und Kultur unterhalten – wie sie künstlerische Verfahren adaptieren, interpolieren und transformieren, wie sie kulturelle Verständnisse dessen, was als Kunst zu gelten habe, herausfordern und erweitern, und wie diese Prozesse als Komponenten einer sich allmählich formierenden Kultur des Computerspiels verstanden werden können. Während in den Anfangszeiten der Debatte um das damals noch junge Medium diskutiert wurde, ob Computerspiele Kunst sind oder nicht,11 gehen die Game Studies heute von einer erweiterten Blickrichtung aus. Sie fragen nicht, ob Computerspiele zur Kunst gehören, sondern danach, wie eine Kunsttheorie des Computerspiels zu entwickeln sei. Ansätze dazu und Instrumentarien dafür stellen die fünf Beiträge dieses Kapitels vor.
Thomas Hensels Beitrag befasst sich mit den Voraussetzungen und Möglichkeiten der selbstreflexiven Kunstwürdigkeit von Computerspielen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie das Computerspiel sich selbst als künstlerisches Medium verstehen und sich zu diesem Verständnis ins Verhältnis setzen kann. Am Beispiel von THE LAST OF US12 betrachtet Hensel den komplexen Prozess der ästhetisch-strukturellen Reflexion des Computerspiels als Spiel mit den Spielregeln selbst. So lässt sich »THE LAST OF US gar als Werk einer Meta-Kunst verstehen, das zum einen Stimmung generiert, […] und das zum anderen die Möglichkeitsbedingungen, Stimmung überhaupt evozieren zu können, performiert und diese Möglichkeitsbedingungen […] ein ums andere Mal demonstriert, ja reflektiert.«13 (»Zwischen ludus und paidia. THE LAST OF US als Reflexion des Computerspiels«)
Philipp Bojahr schlägt vor, den Begriff der Montage im Kontext der Game Studies einer Neubewertung zu unterziehen. Dabei plädiert er dafür, »die Montageformen im Computerspiel unter Beachtung der medienimmanenten Eigenschaften herzuleiten«14 (»Das Computerspiel als Montage. Überlegungen zum Montagebegriff in den Game Studies«) – sich also mit der Frage zu befassen, inwiefern Computerspiele technisch-künstlerische Verfahren der Kombination und Komposition nicht allein imitieren oder variieren, sondern auf Basis ihrer spezifischen Möglichkeiten genuin neu konturieren. Entlang der Betrachtung von distinkten Formen der computerspielbasierten Montage wie der interaktiven Kopplung von Spiel und Spieler oder der Kombinatorik technischer Bauformen des Ladebildschirms zeigt Bojahr auf, wie das Montageverständnis für die Game Studies um- und aufgewertet werden kann.
Der Beitrag von Stephan Schwingeler untersucht das Verhältnis von Kunst und Computerspiel ausgehend von der Beobachtung, »dass sich Künstler digitalen Spielen zuwenden, indem sie vorgefundene Games umgestalten, diese als Material verwenden und so künstlerische Computerspielmodifikationen herstellen.«15 (»Unspielbare Spiele. Künstlerische Computerspielmodifikationen im medientheoretischen Schwebezustand«) Dabei kann er zeigen, wie durch künstlerische Praktiken der Verfremdung die Aufmerksamkeit von der reibungslosen Funktionalität digitaler Spiele ab- und auf die ihnen zugrundeliegenden medialen Eigenschaften umgelenkt wird. Ermöglicht wird dadurch eine Reflexion sowohl der Mechanik und Logik der Spiele als das Herausstellen ihrer Kunstförmig- und -fertigkeit.
Markus Rautzenberg unternimmt in seinem Beitrag einen tiefreichenden Höhlengang. Er schlägt vor, die Erkundung des Computerspiels von den Prinzipien der Speläologie, also der Höhlenkunde aus zu denken, denn schließlich »stellt die speläologische Wechselwirkung von Exploration und Kartographie eine aufschlussreiche Metapher für die mediale Verfasstheit des Computerspiels dar.«16 (»Caves, Caverns and Dungeons. Für eine speläologische Ästhetik des Computerspiels«) Diese Beobachtung verfolgt Rautzenberg entlang von medientheoretischen Diskussionen und medienästhetischen Betrachtungen zur Höhlenform, etwa wenn es um Raumaspekte und Orientierungsmöglichkeiten, um Gestaltungsarten und Wahrnehmungsweisen des Computerspiels geht.
Marc Bonner fragt danach, »inwieweit zentrale Begriffe und Methoden der Architekturtheorie und -philosophie sowie der Architekturkritik und-geschichte für das Gamedesign fruchtbar gemacht und damit einhergehend auch für die Game Studies als Paradigmen zur Erfassung und Analyse der digitalen Spielwelten genutzt werden können.«17 (»›Form follows fun‹ vs. ›Form follows function‹. Architekturgeschichte und -theorie als Paradigmen urbaner Dystopien im Computerspiel«) Einen solchen Zugang führt er exemplarisch anhand der Untersuchung von Bauformen und Funktion urbaner Dystopien im Computerspiel vor. Dabei zeigt er, wie die Entwurfstechniken und Gestaltungsformen real existierender Architekturen in Computerspielen nicht nur adaptiert, sondern auch transformiert und moduliert werden, um dort eine je eigene Bildlichkeit und Erfahrbarkeit von virtuellen Räumen zu generieren.
Das dritte Kapitel »Diskurse | Disziplinen« stellt zusammen und einander gegenüber, was nur zu häufig immer noch isoliert voneinander existiert: Ansätze der Game Studies aus den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie aus der Game-Design-Theorie. Sie differieren in ihren Methoden, vor allem aber in ihren zentralen Erkenntnisinteressen.18 Sucht Game-Design-Theorie vorrangig nach Antworten auf die Doppelfrage, was ein gutes Spiel charakterisiere und wie es sich künstlerisch-handwerklich herstellen lasse, so widmet sich sozialwissenschaftliche Forschung den diversen Wirkungen des Spielens; auf den Einzelnen, bestimmte soziale Gruppen sowie die Gesellschaft insgesamt. Geisteswissenschaftliche Forschung schließlich konzentriert sich primär auf die ästhetischen und kulturellen Bedeutungen, die Spiele besitzen und transportieren.
Den Ausgangspunkt von Gundolf S. Freyermuths medienhistorischer Analyse des Verhältnisses digitaler Spiele zu analogen Spielen einerseits, zu analogen Audiovisionen andererseits bildet die Beobachtung, dass die Game Studies bislang über keinen gesicherten Begriff des Spiels verfügen. In der Absicht, eine historische Theorie digitaler Spiele zu entwerfen, identifiziert Freyermuth drei Entwicklungsschübe: eine prozedurale Wende seit den 1950er Jahren, eine hyperepische Wende seit den 1970er Jahre und eine hyperrealistische Wende seit den 1990er Jahren. In der Summe führte diese Entwicklung dazu, dass digitale Spiele heute eine doppelte Alterität auszeichne, da sie in der Auseinandersetzung mit und Absetzung von diesen älteren Medien ihre eigene Identität formten und nur als deren spezifisches Anderes zum Leitmedium digitaler Kultur aufstiegen: »Im Prozess der Digitalisierung fiel und fällt digitalen Spielen [...] die Rolle zu, die in der zweiten Phase der Industrialisierung nach Benjamins Feststellung der Film erfüllte: Einübung in eine neue, zunehmend von Virtualisierung geprägte Lebenswelt.«19 (»Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie digitaler Spiele«)
Aus der Perspektive des Game Designs und der Game-Design-Theorie orientieren sich Jesse Schells Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Narration zwar gleichfalls historisch, sein Blick richtet sich jedoch primär auf die unmittelbare Gegenwart und nahe Zukunft des Erzählens in digitalen Spielen. Gegenüber älteren Medien, insbesondere Roman, Theater und Film, scheinen Schell digitale Spiele medial noch behindert. Ihre narrativen Kapazitäten gemahnen an die des Films um die Mitte der 1920er Jahre: Beeindruckende medienästhetische Leistungen stünden medientechnischer Unterentwicklung gegenüber, die künstlerisch einschränke. Eine Weiterentwicklung kündige sich jedoch an, die Schell in ihrer Bedeutung mit dem Übergang vom Stumm- zum Tonfilm vergleicht: die medientechnische Befähigung digitaler NPCs und Avatare, dank natürlicher Interfaces (Sprache, Geste, Berührung) und besserer KI die Spieler im weitesten Sinne zu verstehen. Damit könnten virtuelle Gefährten erschaffen werden – über einzelne Spiele und auch die Mediengrenzen hinweg –, »mit denen wir Spieler eine Bindung