Die Frage nach der organischen Grundlage des Lebenssinnes beantwortet König mit dem Verweis auf das autonome vegetative Nervensystem, wobei er eingehend die Polarität zwischen sympathischem und parasympathischem System herausarbeitet. Als die beiden seelischen Äquivalente des Lebenssinns werden die Urerlebnisgebärden Furcht und Scham überzeugend vor Augen geführt. König: «Wir müssen uns darüber klar werden, dass es keine gültige Trennung zwischen der Geisteswissenschaft und der gewöhnlichen Wissenschaft gibt. Sie müssen sich vereinigen. Und wenn wir nicht mutig genug sind, den Lebenssinn den Baum des Lebens zu nennen, der dem Menschen entzogen worden ist, und Furcht und Scham als die Folge davon zu sehen, dass wir einseitig vom Baum des Lebens gegessen haben, dann sind wir unfähig, die umfassenden Ergebnisse der modernen Wissenschaft mit den geistigen Einsichten zu verbinden, die Rudolf Steiner uns vermittelt hat.»
In einem weiteren Vortrag werden Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn vorgestellt. Im Hinblick auf den Bewegungssinn hebt König hervor, dass dieser uns nicht etwa die eigenaktive Selbstbewegung vermittelt, sondern deren Ergebnis: die vielfältige und hochdifferenzierte Bewegtheit unseres Leibes, weswegen eine Erlebnisanalyse dieses Sinns, der Kinästhesie, leichter und unmissverständlicher gelingt, wenn wir zunächst davon absehen, uns selbst zu bewegen, und stattdessen unsere Gliedmaßen von einer anderen Person bewegen lassen. König: «Wenn wir gehen oder unseren Arm heben, wissen wir, dass wir es tun, weil wir diese Bewegungsgestalten im Raum wahrnehmen können. Ähnlich ist es, wenn wir durstig sind und einen Schluck Wasser trinken; wir spüren, dass wir trinken, und wissen, was wir getan haben. Wenn wir dies jedoch sorgfältig beobachten, wird uns deutlich, dass wir uns weniger bewusst sind über das, was wir gerade tun, als über das, was wir gerade getan haben. […] All unsere Beweglichkeit wird uns jedoch fortwährend durch den Bewegungssinn bewusst.» Als das Organ des Bewegungssinnes nennt König das «sogenannte motorische Nervensystem des Rückenmarks und des zentralen Nervensystems». Bei all meiner Wertschätzung, die ich gegenüber Karl König hege, so kann ich ihm bei dieser Zuordnung nicht folgen. Bei allem, was wir heute wissen, ist die organologische Grundlage des Eigenbewegungssinnes, also der Kinästhesie, das sensorische System der sogenannten Tiefensensibilität oder der Propriozeption, bestehend aus den Sinnesorganen in Muskulatur, Sehnen und Faszien, den Muskelspindeln bzw. Tensorezeptoren, deren Erregung über die bipolaren Nervenzellen des Rückenmarks weitergeleitet wird und nach einer synaptischen Umschaltung auf ein zweites Neuron über die Hinterstränge des Rückenmarks bis zum Thalamus geleitet wird und sodann in Form eines drittes Neuron zum Gyrus postzentralis der Großhirnrinde geleitet wird. Das sogenannte motorische Nervensystem dient nach traditioneller neurophysiologischer Auffassung der Willkürbewegung, also dem Akt des Bewegens, nicht der Bewegtheit unseres Leibes. Allerdings wird diese Auffassung von Rudolf Steiner sehr dezidiert als unzutreffend kritisiert. Die Aufgabe des «motorischen» Nerven sei es stattdessen, im Sinne einer sich im Schlafbewusstsein abspielenden Wahrnehmung, den willentlichen Akt der Bewegungshervorbringung zu vermitteln, was ich hier gleichwohl nicht weiterverfolgen möchte.
Mit Blick auf den Gleichgewichtssinn betont König mit Nachdruck, dass dieser Sinn die aufrechte Körperhaltung und damit zugleich auch die seelische Aufrechte ermöglicht. Beim Vergleich mit der Tierwelt wird deutlich, welche kategoriale Bedeutung diese durch den Gleichgewichtssinn vermittelte Tätigkeit des Menschen zur Aufrichtung hat: «Wir erleben nur eine durchdringende Sicherheit, dass wir ein Geist sind, frei von Raum und Zeit. Tastsinn, Lebenssinn und Bewegungssinn sind in das Unbewusste eingetaucht, aber die spirituelle Gewissheit, dass wir derselbe Mensch sind, ganz gleich, wo wir uns befinden, dieser innere Frieden ist uns gegenwärtig durch den Gleichgewichtssinn.» Die Behandlung des Gleichgewichtssinn schließt mit einem Ausblick auf die Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmus in Bezug auf die Raumesgesetze: «Wir denken, dass wir den Gleichgewichtssinn theoretisch verstehen, aber wenn wir ihn näher studieren, entdecken wir, dass es drei verschiedene Arten von Nerven gibt, die zu den drei verschiedenen Teilen des Gleichgewichtsorgans führen. Ein Typ dieser Nerven hat sieben Fasern, der zweite zwölf und der dritte hat achtundzwanzig Fasern. Sie repräsentieren den Kosmos, der die Organisation aufbaut: sieben Erde, zwölf Sonne, achtundzwanzig Mond. Dies legt nahe, dass die drei Arten der sensorischen Nerven den dreidimensionalen Raum repräsentieren und uns die Möglichkeit geben, uns von der Bewegung der Erde, der Sonne und des Mondes zu befreien. Sie geben uns die Möglichkeit, aufrecht zu sein, und dies wiederum ist die Grundlage dafür, dass allmählich Frieden in uns werden kann. Wir befreien uns vom Einfluss der Natur, ihrer Kräfte und allem, was uns sonst eins machen würde mit der Welt. Es ist unsere Aufgabe, uns darüber zu erheben. In seinem ersten Lebensjahr erlangt das Kind den Gleichgewichtssinn. Es bildet ihn in der aufrechten Haltung aus und hat dadurch die Möglichkeit, zu denken und in eine menschliche Haltung hineinzuwachsen. Diese urmenschlichen Fähigkeiten verdanken wir dem Gleichgewichtssinn.»
Umwelt-bezogene Sinne
Zu ihnen werden Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn und Wärmesinn gerechnet. Hier weist König darauf hin, dass es sich bei den in-Welt-bezogenen «unteren» Sinnen um bloße Empfindungen handelt, während die Umwelt in unterschiedlichen Modalitäten als Erfahrungen vermittelt werden. Es wird, mit den Worten Karl Königs, «ein anderer ‹Leib›, der Leib der uns umgebenden Welt» wahrgenommen, was bedeutet, «dass unser eigener Leib in einem größeren, weiteren und schöneren Leib lebt, der ihn umgibt». Worauf König ebenfalls hinweist ist, dass die Wahrnehmung dieser Umwelt-bezogenen Sinne in dem Sinne «individuelle Erfahrungen» sind, dass wir sie mit keinem anderen Menschen teilen, wir sie ganz für uns haben. Zugleich wird aber verdeutlicht, dass wir «die Wahrnehmungen, die ein jeder macht, miteinander vergleichen, sie benennen, und uns über sie austauschen […] Moderne Physiologen irren sich, wenn sie annehmen, es handele sich bei den Erfahrungen des Geruchs, des Geschmacks, der Farbe und der Wärme um Urteile. Ein Geruch oder ein Geschmack hat mehr Realität als eine chemische Formel, die in Bezug auf diesen Geruch oder Geschmack erarbeitet werden kann. Geschmack, Geruch, Gesehenes und Wärme sind Wirklichkeiten des Weltleibes, in den wir eingebettet sind. Weil das für alle Menschen so ist, können wir uns auf sie beziehen und über sie sprechen, auch wenn es sich um individuelle Erfahrungen handelt».
«Wir können nur sagen, wonach etwas riecht, denn Gerüche sind individuell, und es gibt so viele Gerüche, wie es Worte gibt, sie zu benennen und zu beschreiben», so Karl König im Hinblick auf die schier unbegrenzte Mannigfaltigkeit an Gerüchen. Abgesehen davon, dass man beim Versuch, dieser unübersehbaren Mannigfaltigkeit an Geruchsqualitäten auf die besonders dem Geruchssinn eigene Schwierigkeit stößt, dass keine spezifischen Wortbezeichnungen für Geruchsklassen oder Geruchskategorien existieren, weil Gerüche in besonderem Maße der Sphäre des Emotionalen, Affektiven und Vitalen angehören, ist die Charakterisierung der einzelnen Gerüche als «individuell» zutreffend. Das zeigt sich auch daran, dass die Versuche, das vielfältige Gesamt der Geruchsqualitäten in eine Phänomenale oder an anderen Kriterien orientierte Ordnung zu bringen, allesamt vorläufig sind, unbefriedigend erscheinen und letztendlich als gescheitert angesehen werden müssen.22
Der Geruchssinn, darauf verweist König eindrücklich, bringt uns auf sehr intime Weise in eine Vereinigung mit den Dingen, insofern diese, gleichsam «verduftend», sich der Luft mitteilen, dass wir dort, wo wir mit unserer Sprache darauf zu verweisen suchen, auf das jeweilige Substantiv Bezug nehmen: es riecht wie eine Rose, wie Lindenblüten, wie ein Kadaver. In früherer Zeit ist von den Ärzten beispielsweise eine Masernerkrankung nicht nur am Hautausschlag, sondern auch an einem spezifischen Geruch diagnostiziert worden, nämlich: Es riecht wie im Keller der Berliner Viktualienhändler (Scharlach), oder, bei Masern: Es riecht wie frisch gerupfte Gänsekiele.23 Ähnliches findet sich in der Medizin hinsichtlich spezifischer, unverwechselbarer Mundgerüche, nämlich einem Foetor hepaticus, diabeticus, psychoticus u. a. m.24 Zudem macht König darauf aufmerksam, dass Gerüche dann entstehen,