Auch wenn im Hinblick auf den hier behandelten Modalbezirk der Coenästhesie bzw. des Lebenssinns ein Mangel an phänomenologischer bzw. empirisch-experimenteller Beforschung besteht, so muss in diesem Zusammenhang doch darauf hingewiesen werden, dass es sich hier um einen Modalbereich handelt, der für die Medizin und die Medizinanthropologie von zentraler Bedeutung ist. Denn was zu ihm gehört, ist eben nicht nur die Schmerzempfindung als Hinweis auf eine aktuelle Schädigung bzw. ein krankhaftes Geschehen. Zu ihm gehören neben Schmerz und Lust, Hunger und Sättigung, Durst und Labung, Ermattung und Erquickung, Ermüdung und Erfrischung u.a.m. alle lokalen und nicht lokalen Missempfindungen bei krankhaften Organ- und Allgemeinerkrankungen. Ohne ihn, diesen Sinn, wäre eine lebenserhaltende autonome Lebenspraxis gar nicht denkbar. Ohne Dursterleben als Hinweis auf einen aktuellen Flüssigkeitsmangel bzw. eine drohende Elektrolytverschiebung, ohne Hunger als ein innerleiblich empfundenes Signal eines anstehenden Nahrungsmangels und ohne das Erleben der Müdigkeit bzw. der Ermattung als innerleiblichem Hinweis auf das Erfordernis von Schlaf und Erholung würde bereits nach wenigen Tagen der Tod eintreten.
Was uns die Gesamtheit der auf den eigenen Leib bezogenen Sinne an Wahrnehmung vermittelt, ist nicht etwas nur Subjektives, es ist viel mehr der «Innenaspekt» erlebter Leiblichkeit. Wir sind in der ärztlichen Praxis oft nicht in der Lage, die Phänomene des Befindens bzw. Missbefindens als feine Indikatoren für im Entstehen begriffene Krankheiten diagnostisch und therapeutisch verwerten zu können. So ist es eine geläufige Erfahrung, dass der befundmäßig objektivierbaren Parkinson’schen Krankheit über Jahre hinweg «innere» Erlebnisse vorausgehen können in dem Sinne, dass charakteristische eigenleibliche Wahrnehmungen, die in der Regel mit «objektiv» greifbaren Symptomen dieser Erkrankung verbunden sind, bereits bei (noch) völlig «unauffälligem» neurologischen Befund vorhanden sein können, bis der pathische Aspekt «inneren Vibrierens» sich schließlich um den des äußeren Tremorphänomens erweitert.19
Was den Eigenbewegungssinn betrifft, so ist dieser der konventionellen Physiologie bekannt und wird dort als Kinästhesie bezeichnet. Dieser Sinn wird in der Physiologie auch als Propriozeption bezeichnet, also als eine Modalität, die das Körperselbst bzw. die eigenleibliche Selbstwahrnehmung vermittelt. Folgt man aber Rudolf Steiner und Karl König, so ist es das Gesamt der auf den eigenen Leib bezogenen Sinne, also Lebenssinn, Eigenbewegungssinn und Gleichgewichtssinn, mit deren Hilfe wir uns als leibliches Wesen selbst wahrnehmen.
Auch der Gleichgewichtssinn erweist sich als ein zwar auf die eigene Leiblichkeit bezogener, aber dennoch objektiver Sinn, in dem durch ihn – vor aller Urteilsbildung, als sinnenfällige Gegebenheit – die leibliche Orientierung in den drei Raumesrichtungen, nämlich oben – unten, vorne – hinten sowie rechts – links bewusst werden sowie die entsprechenden Abweichungen des eigenen Leibes von den vorgenannten Qualitäten, die sich bei einer qualitativen Raumauffassung auch als objektive Eigenschaften des Raumes erweisen.
Was den Tastsinn betrifft, so wird von Steiner bei der Erstvorstellung seiner Konzeption der menschlichen Sinne 1909 noch darauf verwiesen, dass diese «gewöhnlich zusammengeworfen» wird «mit dem Wärmesinn»: «Zunächst hat der Tastsinn freilich nur als Wärmesinn Bedeutung. Als solcher Sinn ist sozusagen im Groben zu bezeichnen die ganze Haut. Diese ist auch in gewisser Weise für den Tastsinn da. Doch ist, richtig betrachtet, nicht nur das ein Tasten, was wir tun, wenn wir einen Gegenstand anrühren, seine Oberfläche abfühlen; Tasten ist es auch, wenn wir mit den Augen etwas suchen. Auch Geruchssinn und Geschmackssinn können tasten. Wenn wir schnüffeln, so tasten wir mit dem Geruchssinn. Bis herauf zum Wärmesinn ist das Tasten eine gemeinschaftliche Eigenschaft der Sinne vier bis sieben. Von diesen Sinnen können wir also sprechen als von Sinnen des Tastens. […] Nur unsere grobklotzige Betrachtungsweise der Physiologie kann einem Sinn etwas zuschreiben, was einer ganzen Reihe von Sinnen zukommt, dem Geruchssinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn und Wärmesinn. Beim Gehörsinn hört die Möglichkeit auf, ihn als Tastsinn zu bezeichnen; noch weniger ist das beim Sprachsinn und wiederum weniger beim Begriffssinn möglich. Während wir beim Tastsinn etwas haben, was an der Oberfläche bleibt, was nicht in die Dinge hineindringen kann, so dringen wir beim Wärmesinn zunächst in die Dinge ein und dann immer tiefer und tiefer. Diese oberen Sinne liefern uns das Verstehen und Begreifen der Dinge in ihrem Innern, und sie werden daher als Sinne des Begreifens bezeichnet.»20
Was die umweltbezogenen Sinne betrifft, nämlich Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn und Wärmesinn, so sind diese aus der konventionellen Physiologie bekannt, erhalten zwar im Rahmen einer anthroposophischen Sinneslehre eine spirituell erweiterte Deutung, werden aber in phänomenologischer Hinsicht nicht abweichend behandelt, weshalb sich eine detailhafte Darstellung hier erübrigt.
Die Mitwelt-bezogenen Sinne
Als ebenso interessant wie denkanstoßend erweist sich der Umstand, dass Rudolf Steiner den Hörsinn ausdrücklich nicht als umweltbezogenen Sinn auffasst, sondern einer Gruppe von Sinnen zuordnet, die er als die «oberen» «höheren» bzw. «geistigen» Sinne bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zwar die Kriterien erfüllen, Sinne zu sein, eine spezifische Wahrnehmungsqualität vermitteln, die gerade nicht das Ergebnis einer gedanklichen Schlussfolgerung, also eines Urteils ist – uns aber ein Erfassen der seelisch-geistigen Wirklichkeit des anderen ermöglicht. Im Hinblick auf die Frage, wie sehr wir mittels der (umweltbezogenen) Sinne ins Innere der Dinge vorzudringen vermögen, charakterisiert Steiner den Hörsinn wie folgt: «Kann der Mensch vermittels seiner Sinne noch tiefer in die Untergründe der Dinge gelangen? Kann er das intime Innere der Dinge noch genauer kennenlernen als durch den Wärmesinn? Ja, das kann er, indem die Dinge ihm zeigen, wie sie in ihrer Innerlichkeit sind, wenn sie zu tönen anfangen. Die Wärme ist in den Dingen ganz gleichmäßig verteilt. Was Ton in den Dingen ist, ist nicht gleichmäßig verteilt. Der Ton bringt die Innerlichkeit der Dinge zum Erzittern. Dadurch zeigt sich eine gewisse innere Beschaffenheit. Wie das Ding im Innern beweglich ist, nehmen Sie wahr durch den intimen Gehörsinn. Er liefert uns eine intimere Kenntnis der Außenwelt als der Wärmesinn. Das ist der achte Sinn, der Gehörsinn. Im Ton offenbart uns ein Ding, wie es innerlich ist, wenn wir dieses Ding anschlagen. Wir unterscheiden die Dinge nach ihrer inneren Natur, nach der Art, wie sie innerlich erzittern und erbeben können, wenn wir sie zum Tönen bringen. Die Seele der Dinge spricht in gewisser Weise da zu uns.»
An den Hörsinn anschließend weist Steiner im gleichen Vortrag noch zwei weitere Sinne auf: «Gibt es nun noch höhere Sinne als den Gehörsinn? Hier müssen wir noch viel behutsamer zu Werke gehen, um die höheren Sinne zu erforschen; denn wir dürfen die Sinne nicht mit etwas anderem verwechseln. Im gewöhnlichen Leben, da wo man unten stehen bleibt, wo man alles durcheinanderwirft, spricht man noch von anderen Sinnen, zum Beispiel vom Nachahmungssinn, vom Verheimlichungssinn und so weiter. Da ist das Wort Sinn aber falsch angewendet. Sinn ist das, wodurch wir uns eine Erkenntnis verschaffen ohne Mitwirken des Verstandes. Wo wir uns durch das Urteil eine Erkenntnis verschaffen, da sprechen wir nicht von Sinn, sondern nur da, wo unsere Urteilsfähigkeit noch nicht in Kraft getreten ist. Nehmen Sie eine Farbe wahr, so gebrauchen Sie einen Sinn. Wollen Sie urteilen zwischen zwei Farben, so gebrauchen Sie keinen Sinn.
Gibt es in diesem Sinn […] noch andere Sinne? Ja, es gibt noch einen neunten Sinn. Wir finden ihn, wenn wir uns überlegen, dass es allerdings im Menschen noch eine gewisse Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Das ist ganz besonders wichtig für die Fundamentierung der Anthroposophie. Es gibt eine Wahrnehmungsfähigkeit, die nicht auf dem Urteil beruht, aber doch in ihm vorhanden ist. Es ist dasjenige, was wir wahrnehmen, wenn wir durch die Sprache uns mit unseren Mitmenschen verständigen. In dem Wahrnehmen dessen, was uns durch die Sprache gegeben ist, liegt nicht nur ein Ausdruck des Urteilens, sondern es liegt ein wirklicher Sprachsinn da zugrunde. Dieser Sprachsinn ist der neunte Sinn. Von ihm muss man sprechen, wie man von einem Gesichts- oder Geruchssinn spricht. Das Kind lernt sprechen, bevor es urteilen lernt. Das ganze Volk hat eine Sprache; das Urteilen obliegt dem einzelnen Menschen. Was zum Sinne spricht, unterliegt nicht der Seelentätigkeit des einzelnen Menschen. Das Hören kündet einem das innere Erzittern an. Die Wahrnehmung,