Dass es sich bei dem von Steiner erstmals beschriebenen Sprach-oder Lautsinn um ein Modalbezirk handelt, der alle Kriterien erfüllt, also als ein Sinn aufgefasst und akzeptiert zu werden hat, ist im Rahmen einer an der Universität Witten/Herdecke durchgeführten medizinischen Inauguraldissertation aufgezeigt worden.21
Als einen noch subtileren Sinn hat Steiner einen Begriffssinn herausgearbeitet und charakterisiert. «Dann kommen wir zum zehnten der Sinne. Das ist derjenige, der für das gewöhnliche Menschenleben der höchste ist. Durch ihn wird der Mensch fähig, den Begriff, der sich in Sprachlaute kleidet, zu verstehen. Das ist geradeso ein Sinn wie jeder andere. Damit wir urteilen können, müssen wir Begriffe haben. Soll die Seele sich regen, so muss sie Begriffe wahrnehmen können. Dies vermag sie durch den Begriffssinn. So haben wir in ihm einen zehnten Sinn aufgezählt.» (Steiner 1909, Vortrag vom 23.10.1909)
Im Rahmen der in der Vortragsreihe 1909 dargestellten Konzeption zu einer geisteswissenschaftlich erweiterten Sinneslehre hat Rudolf Steiner den Tastsinn und den Ichsinn bewusst nicht als Sinn behandelt. Beide Sinne erfahren bei Rudolf Steiner erst ab 1916 eine Würdigung. In dem Vortrag «Die zwölf Sinnesbezirke und die sieben Lebensprozesse» (im Vortrag vom 12.08.1916) und in allen späteren Darstellungen werden nun zwölf Sinne beschrieben. Als erster wird hier der Tastsinn genannt und folgendermaßen charakterisiert. «Tastsinn ist gewissermaßen derjenige Sinn, durch den der Mensch in ein Verhältnis zur materiellsten Art der Außenwelt tritt. Durch den Tastsinn stößt gewissermaßen der Mensch an die Außenwelt, fortwährend verkehrt der Mensch durch den Tastsinn in der gröbsten Weise mit der Außenwelt. Aber trotzdem spielt sich der Vorgang, der beim Tasten stattfindet, innerhalb der Haut des Menschen ab. Der Mensch stößt mit seiner Haut an den Gegenstand. Das, was sich abspielt, dass er eine Wahrnehmung hat von dem Gegenstand, an den er stößt, das geschieht selbstverständlich innerhalb der Haut, innerhalb des Leibes. Also der Prozess, der Vorgang des Tastens geschieht innerhalb des Menschen.»
Die mitweltbezogenen Sinne, d. h. Gehörsinn, Wortsinn bzw. Sprachsinn oder Lautsinn und Denksinn werden jetzt durch einen Ichsinn ergänzt. Diese Gruppe der «oberen» Sinne werden von Rudolf Steiner im vorgenannten Vortrag wie folgt ergänzt: «Noch intimer setzen Sie sich mit dem Inneren der Außenwelt durch den Gehörsinn in Beziehung. Der Ton verrät uns schon sehr viel von dem inneren Gefüge des Äußeren, viel mehr noch als die Wärme, und sehr viel mehr als der Gesichtssinn. Der Gesichtssinn gibt uns sozusagen nur Bilder von der Oberfläche. Der Hörsinn verrät uns, indem das Metall anfängt zu tönen, wie es in seinem eigenen Innern ist. Der Wärmesinn geht schon auch in das Innere hinein. Wenn ich irgendetwas, zum Beispiel ein Stück Eis anfasse, so bin ich überzeugt: Nicht bloß die Oberfläche ist kalt, sondern es ist durch und durch kalt. Wenn ich etwas anschaue, sehe ich nur die Farbe der Grenze, der Oberfläche; aber wenn ich etwas zum Tönen bringe, dann nehme ich gewissermaßen von dem Tönenden das Innere intim wahr.
Und noch intimer nimmt man wahr, wenn das Tönende Sinn enthält. Also Tonsinn: Sprachsinn, Wortsinn könnten wir vielleicht besser sagen. Es ist einfach unsinnig, wenn man glaubt, dass die Wahrnehmung des Wortes dasselbe ist wie die Wahrnehmung des Tones. Sie sind ebenso voneinander verschieden wie Geschmack und Gesicht. Im Ton nehmen wir zwar sehr das Innere der Außenwelt wahr, aber dieses Innere der Außenwelt muss sich noch mehr verinnerlichen, wenn der Ton sinnvoll zum Worte werden soll. Also noch intimer in die Außenwelt leben wir uns ein, wenn wir nicht bloß Tönendes durch den Hörsinn wahrnehmen, sondern wenn wir Sinnvolles durch den Wortsinn wahrnehmen. Aber wiederum, wenn ich das Wort wahrnehme, so lebe ich mich nicht so intim in das Objekt, in das äußere Wesen hinein, als wenn ich durch das Wort den Gedanken wahrnehme. Da unterscheiden die meisten Menschen schon nicht mehr. Aber es ist ein Unterschied zwischen dem Wahrnehmen des bloßen Wortes, des sinnvoll Tönenden, und dem realen Wahrnehmen des Gedankens hinter dem Worte. Das Wort nehmen Sie schließlich auch wahr, wenn es gelöst wird von dem Denker durch den Phonographen, oder selbst durch das Geschriebene. Aber im lebendigen Zusammenhange mit dem Wesen, das das Wort bildet, unmittelbar durch das Wort in das Wesen, in das denkende, vorstellende Wesen mich hineinversetzen, das erfordert noch einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen Wortsinn, das erfordert den Denksinn, wie ich es nennen möchte.»
Dieser hier geschilderte Denksinn dürfte, so scheint es, die Grundlage dafür darstellen, dass wir über semantisches Verstehen verfügen bzw. Semantik betreiben. «Und ein noch intimeres Verhältnis zur Außenwelt als der Denksinn gibt uns derjenige Sinn, der es uns möglich macht, mit einem anderen Wesen so zu fühlen, sich eins zu wissen, dass man es wie sich selbst empfindet. Das ist, wenn man durch das Denken, durch das lebendige Denken, das einem das Wesen zuwendet, das Ich dieses Wesens wahrnimmt – der Ichsinn. Sehen Sie, man muss wirklich unterscheiden zwischen dem Ichsinn, der das Ich des anderen wahrnimmt, und dem Wahrnehmen des eigenen Ich. […] Diese beiden Dinge müssen streng voneinander unterschieden werden. Wenn wir vom Ichsinn reden, so reden wir von der Fähigkeit des Menschen, ein anderes Ich wahrzunehmen. […] Bezüglich dieser Wahrnehmung des anderen Ich durch den Ichsinn ist nun – das sage ich aus tiefer Liebe zur materialistischen Wissenschaft, weil diese tiefe Liebe zur materialistischen Wissenschaft einen befähigt, die Sache wirklich zu durchschauen – die materialistische Wissenschaft ist heute geradezu behaftet mit Blödsinnigkeit. Sie wird blödsinnig, wenn sie von der Art redet, wie sich der Mensch verhält, wenn er den Ichsinn in Bewegung setzt, denn sie reden ihnen vor, diese materialistische Wissenschaft, dass eigentlich der Mensch, wenn er einem Menschen entgegentritt, aus den Gesten, die der andere Mensch macht, aus seinen Mienen und aus allerlei anderem unbewusst auf das Ich schließt, dass es ein unbewusster Schluss wäre auf das Ich des anderen. Das ist ein völliger Unsinn! Wahrhaftig, so unmittelbar wie wir eine Farbe wahrnehmen, nehmen wir das Ich des anderen wahr, indem wir ihm entgegentreten. Zu glauben, dass wir erst aus der körperlichen Wahrnehmung auf das Ich schließen, ist eigentlich vollständig stumpfsinnig, weil es abstumpft gegen die wahre Tatsache, dass im Menschen ein tiefer Sinn vorhanden ist, das andere Ich aufzufassen. So wie durch das Auge Hell und Dunkel und Farben wahrgenommen werden, so werden durch den Ichsinn die anderen Iche unmittelbar wahrgenommen. Es ist ein Sinnenverhältnis zu dem anderen Ich. Das muss man erleben. Und ebenso, wie die Farbe durch das Auge auf mich wirkt, so wirkt das andere Ich durch den Ichsinn. […] Zwölf gesonderte Gebiete des menschlichen Organismus haben wir in diesen Sinnesgebieten.»
Der Kreis der zwölf Sinne bei Karl König
Als Geistesschüler Rudolf Steiners hat sich Karl König sein ganzes, hoch intensives und höchst vielseitiges Leben lang mit der Frage nach der Bedeutung einer durch die anthroposophische Geisteswissenschaft Rudolf Steiners erweiterten Erkenntnis der Sinne des Menschen beschäftigt. Die Ausführungen Steiners zur Sinneswahrnehmung und zu den einzelnen Sinnen unvoreingenommen höchst ernsthaft und gewissenhaft prüfend, hat Karl König dank der ihm eigenen Genialität und Kreativität eigenständige Auffassungen und Bewertungen der einzelnen Sinne und ihres Zusammenwirkens vollzogen.
Die in diesem Band herausgegebenen Schriften zu den menschlichen Sinnen stützen sich im Wesentlichen auf Vorträge und Kurse, die Karl König an unterschiedlichen Orten gehalten hat. In den acht Vorträgen des 1960 in Spring Valley gehaltenen Kurses gibt König im ersten Vortrag einen Überblick über die Zwölfheit der Sinne des Menschen, um sodann im Verlauf der beiden nachfolgenden Vorträge eingehend sich mit den die Wahrnehmungen des eigenen Leibes ermöglichenden Sinnen – Tastsinn, Lebensinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn – zu beschäftigen.
Inwelt-bezogene Sinne
Angeregt durch Rudolf Steiner gibt König neben einer subtilen phänomenologischen Schilderung des Tastens Erlebnismetamorphosen des Tastsinns in Form des Angsterlebens und weist auf die Aussage Steiners hin, dass der Mensch, «wenn er keinen Tastsinn hätte, das Gottgefühl nicht haben» könnte. Der Angst, so König, als der Erfahrung der Unsicherheit im Tasten, «steht gegenüber die Erfahrung des Durchdrungenseins mit Gottgefühl: die Anwesenheit göttlicher Schöpfungskräfte in unserer