„Jeder Andächtige kann alle Tage und zu jeder Stunde zur geistlichen Kommunion Christi heilsam und ohne Hinderung hinzutreten. Denn jedes Mal kommuniziert er in mystischer Weise und wird unsichtbar gestärkt, wenn er das Mysterium von Christi Menschwerdung und seine Passion andächtig betrachtet und in Liebe zu ihm entbrennt.“
ZUR WIRKUNGSGESCHICHTE
Der fleißigen Feder des Thomas von Kempen verdanken wir, wie bereits erwähnt, zahlreiche Schriften, vor allem aber Kopien. Diese Art der frühen Literaturverbreitung wurde für ihn, den geradezu buchstäblich seiner Klosterzelle verschriebenen Augustiner Chorherrn, zum Lebensinhalt. Die bedeutsamste von ihm zusammengetragene und redigierte ist unbestritten De imitatione Christi. Das ausgehende Mittelalter ist ohne dieses Hauptwerk der Devotio moderna gar nicht zu denken. Darüber hinaus ist das Buch als ganzes oder auch durch einzelne Teile zu einem Elementarbuch sowohl der volkstümlichen wie der in den Orden gepflegten Frömmigkeit geworden. Das gilt bereits für die Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola. „Der Protestantismus hat die Imitatio (meist mit Ausnahme des vierten Buches) ebenfalls hoch geschätzt... In pietistischen Lektüreempfehlungen werden aus dem Spätmittelalter gerne Johannes Tauler, die Theologia deutsch und Thomas von Kempen nebeneinandergestellt. Selbst dort, wo man aus Misstrauen gegen ‚katholische‘ Mystik die beiden erstgenannten ausscheidet, wird die Imitatio weiterhin empfohlen.“21 Ferner sind die Protestanten Johann Arndt und Peter Poiret, Gottfried Arnold und Gerhard Tersteegen zu nennen. Dass sich darüber hinaus so eigengeprägte Männer wie Dietrich Bonhoeffer – neben ihm der ebenfalls von den Nazis ermordete Jesuit Alfred Delp – und Dag Hammarskjöld die Nachfolge zu eigen gemacht haben, wurde bereits eingangs berichtet. Selbst in Rudolf Steiners anthroposophischem Schulungsbuch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? wird neben dem Johannesevangelium und der Bhagavadgita die Schrift des Thomas von Kempen als bedeutsame Begleitlektüre der meditativen Übungen zu einem spirituellen Leben empfohlen.22
Das Werk des Kempeners und seiner geistesverwandten Freunde trägt wohl die der mittelalterlichen Frömmigkeitstradition verpflichteten Deutungen des Jesus-Lebens. Sie ist auch nicht frei von Einseitigkeiten und Akzentsetzungen, deren Anerkennung einem heutigen Leser schwer fallen. Doch – lutherisch gesprochen – in der „Freiheit des Christenmenschen“ lassen sich in mancher Hinsicht auch unzeitgemäß scheinende spirituelle Schriften als Übungsbücher akzeptieren. Mit anderen Worten: Was uns aus vergangenen Lebens- und Glaubenswelten überkommen ist, fordert uns zu einer Über-Setzung auf. Und es bedarf keines besonderen Hinweises, dass es sich dabei nicht allein um sprachliche oder gedankliche Verdeutlichung handelt. Wie aber kam es zu dem außerordentlichen Erfolg des Nachfolge-Buches? Der Mystik-Historiker Kurt Ruh verweist auf den geistlichen Gehalt und sagt von der Imitatio:
„Sie enthält genau das, wessen die fromme christliche Leserschaft beider Konfessionen zu ihrer Erbauung und zu ihrem Seelenheil bedurfte: die persönliche Christus-Liebe und -Nachfolge, die Meditation über Leben, Leiden und Sterben des Herrn, die Gewissenserforschung, die Weltverachtung, die Ablehnung theologisch-philosophischer Gelehrsamkeit, die ‚pietistische‘ Ausrichtung als solche mit ihrem nicht als Widerspruch empfundenen Sündenbewusstsein und ihrer Erwähltheitsgewissheit. Dazu kommt in den Übersetzungen die schlichte, auf Laienkreise hin ausgerichtete Sprache.“23
ZUR VORLIEGENDEN AUSGABE
Der Auswahl aus den vier Büchern der Thomas von Kempen zugeschriebenen Nachfolge Christi ist die lateinische Fassung De imitatione Christi. Libri quatuor, Ratisbona-Regensburg 1957 zugrunde gelegt. Zum Vergleich wird herangezogen: Gerrit Grote, Die Nachfolge Christi oder das Buch vom innern Trost, Olten-Freiburg 1947 und Geert Groote, Thomas von Kempen und die Devotio moderna, hg. von Hans Norbert Janowski, Olten-Freiburg 1978. Die Zitate aus dem Briefwechsel des Thomas von Kempen finden sich in: Wilhelm Oehl (Hg.), Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters 1100 – 1550 (1931), Darmstadt 1972.
1 Josef Sudbrack, Existentielles Christentum, in: Geist und Leben 35 (1964), 38 ff.
2 Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967, 515 ff. – Gerhard Krause, Bonhoeffer, Dietrich, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) Bd. 7, 55 ff.
3 Gerhard Wehr, „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen“. Mystik im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2011, 72 ff; 152. ff.
4 A. Schulz, Nachfolge, in: Heinrich Fries (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe, München 1970, Bd. 3, 215.
5 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, in: Bonhoeffer-Auswahl, Bd. 3, Gütersloh 1977, 105.
6 Robert Stupperich, Brüder vom gemeinsamen Leben, in: TRE, Bd. 3, 220 ff.
7 Gerhard Wehr, Mechthild von Magdeburg – „Das fließende Licht der Gottheit“, Wiesbaden 2010.
8 Émile Brouette, Devotio moderna I, in: TRE, Bd. 8, 605 f.
9 Bernhard Fraling, Der Mensch vor dem Geheimnis. Untersuchungen zur geistlichen Lehre des Jan van Ruusbroec, Würzburg 1967, 239 f.
10 Jan van Ruusbroec, Die Zierde der geistlichen Hochzeit. Übers. Marijke Schaad-Visser, Einsiedeln 1987.
11 Rudolf van Dijk, Groote, Gerhard, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1989, 207 f.
12 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520) (= WA 6,381 – 469).
13 Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 78.
14 AaO., 79.
15 Reinhold Makrosch, Devotio moderna II, in: TRE, Bd. 8, 609 – 616.
16 Ulrich Köpf, Thomas von Kempen, in: TRE, Bd. 33, 480.
17 Johanna Lanczkowski, Thomas von Kempen, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Wörterbuch der Mystik, aaO., 496.