Der frühere UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905 – 1961), von dem erst nach seinem Tod bekannt wurde, dass er ein diszipliniertes geistliches Leben geführt hat, benutzte die Nachfolge Christi als spirituelles Vademecum. Es begleitete ihn bei den ausgedehnten Auslandsreisen im Dienst seiner Friedensbemühungen. Beide, der an Karl Barth orientierte Bonhoeffer und der international anerkannte schwedische Diplomat Hammarskjöld, lebten je auf ihre individuelle Weise exemplarisch im Geist der christlichen Mystik.3 Dazu bemerkt Josef Sudbrack, man müsse vielleicht besondere Grenzerfahrungen gemacht haben, um mit dem Geist der Christus-Nachfolge und mit dieser zur Meditation anregenden Schrift vertraut zu werden.
„KOMMT UND FOLGT MIR NACH!“
Was die Thematik anlangt, so ist der Ruf in die Christus-Nachfolge unauflöslich mit der ursprünglichen Botschaft des Wanderpredigers Jesus von Nazaret und daher mit dem Christsein als Existenzform verbunden. Und diese Botschaft lässt sich bereits durch den in diesem Wort enthaltenen Imperativ konzentriert zum Ausdruck bringen.
Es sind bedeutsame, zugleich prototypische Situationen, die die Evangelien schildern – auf der einen Seite die drei Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas, auf der anderen Seite das Johannesevangelium. Bald einladend, bald gebieterisch fordernd tritt der wandernde Jesus an Menschen heran, an Einzelne und an kleine Gruppen mit der Anrede „Kommt und folgt mir nach!“ Dieses Wort gilt neben Einzelbeispielen einigen Fischern am See Genezaret in Galiläa, die sich als Jünger der sich bildenden Jesus-Bewegung angeschlossen haben und als Apostel tätig geworden sind. Man hört auffälligerweise von keiner vorausgehenden Diskussion, von keinem durchaus zu erwartenden „Ja, aber“ der Angesprochenen. Vielmehr wird erzählt, wie diese Männer ihre Fischernetze verlassen und ihre Arbeitsverhältnisse, gegebenenfalls sogar die Familie aufgeben, als hätten für sie zuvor keine festen Bindungen bestanden. Den Evangelisten lag zweifellos daran, der letztlichen Unbedingtheit – Meister Eckhart würde sagen: „ohne Warum“ (sunder warumbe) – Nachdruck zu verleihen. Die Christus-Nachfolge gestattet jedoch keine Privilegien oder private Zugeständnisse. Auch das betont das Evangelium; denn „wer die Hand an den Pflug legt und blickt zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“ (Lk 9,62).
Weil es sich sowohl um die Aufforderung zu einem äußeren Anschluss als auch und vor allem um ein inneres Teilnehmen an dem Leben des kommenden Messias handelt, verweist das ursprüngliche Wort von der „Nachfolge“ auf das „Herzstück christlicher Spiritualität“ überhaupt (E. von Severus). Es geht um nichts Geringeres als darum, dass die Angesprochenen ihrem bisherigen Leben eine entscheidende Wendung und einen neuen Inhalt zu geben bereit sind. Mit dem Wort von der Nachfolge wären andere Grundworte der neutestamentlichen Botschaft (euangélion), nicht minder gewichtige, zu verknüpfen, etwa das Wort von dem anbrechenden „Reich“ (Dein Reich komme!), das mit und in den Menschen der Nachfolge beginnt (Lk 17,21). Nicht zuletzt hat diese Nachfolge mit einer existenziellen „Umkehr“ (metánoia) zu tun, die viel mehr als ein bloßes Umdenken meint: „Du musst dein Leben ändern!“ (Rilke)
Die Nachfolge Christi zieht somit tiefgreifende Konsequenzen für die äußerlich wie innerlich Angesprochenen nach sich. Der Anschluss an den Nazarener bedeutet für seine ersten Anhänger und Anhängerinnen, den Weg zu gehen, wie er ihn durch sein Leben vorgezeichnet hat. Dieser Weg führt durch eine Reihe charakteristischer Durchgangsstationen der Prüfung und der Bewährung hindurch. Deren Symbolhaftigkeit reicht bis tief in die Reifungsprozesse eines jeden Menschen hinein. So gesehen wird es jeweils darauf ankommen, dass man das in Bild und Gleichnis geschilderte Jesus-Leben so für sich erschließt, dass deren individuelle Bedeutsamkeit für jeden Einzelnen einsichtig und umsetzbar wird. Das zeigen all jene, die inmitten ihres bisherigen und künftigen Berufs je auf ihre individuelle Weise die Christusnachfolge zu praktizieren versuchen.
Von daher gesehen muss man sich klar machen, was Jesu Worte „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem!“ – das heißt: zum Kreuz – in ihrer existenziellen Tiefe meinen, wenn man sie in der gebotenen Weise auf sich selbst bezieht. Es kann jedenfalls nicht etwa gemeint sein, Jesus in äußerlicher Weise im Sinne einer buchstäblichen Imitatio lediglich nachzuahmen. Jesus trägt sein Kreuz. Seinen Jüngern ist es aufgetragen ihr eigenes Kreuz und ihr eigenes Leben, gerade auch mit seinen Belastungen und Beschwernissen, zu leben. Darüber hinaus gilt: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Und dazu gehören die von den Evangelien in ihrer konkreten Vielfalt geschilderten Akte der Nachfolge, etwa die Freundes- wie die Feindesliebe (agápe), die Bereitschaft zur „Fußwaschung“ als Ausdruck einer diakonisch-karitativen Dienstbereitschaft. Dazu gehören die bei Matthäus in der Gerichtsrede beispielhaft genannten Zeichen der Barmherzigkeit: „Was ihr einem unter meinen geringsten Brüdern (und Schwestern!) getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).
Die zugrunde liegende theologische Bedeutung lässt sich mit den folgenden Worten zusammenfassen: „Schon die innerneutestamentliche Begriffsgeschichte von ‚nachfolgen‘(akolouthein) zeigt sehr deutlich das Bestreben der urchristlichen Theologen, die Worte Jesu vom Nachfolgen stets auf eine der heilsgeschichtlichen Situationen ihrer Hörer gemäße Weise neu zu sagen. Gerade diese Einsicht verpflichtet auch die Theologie der Gegenwart, den spirituellen oder existenziellen Sinn der Nachfolge Christi unter Führung des biblischen Fundamentes aufzuzeigen ... Der Kern aller biblischen Religiosität ist der unverzügliche Gehorsam ... Die Antwort des gehorsamen Menschen ist der Glaube. Die Treue gegen den auserwählenden Ruf Gottes auf dem Wege des Christus führt zum ewigen Leben.“4 Dabei ist immer wieder zu bedenken, dass damit kein fernes oder zukünftiges Jenseits gemeint ist, sondern dass das ewige Leben stets jetzt und hier beginnt. Dies kann als Inbegriff einer mystischen Tatsache betrachtet und soll lebenspraktisch umgesetzt werden.
Bleibt nur noch zu resümieren, dass der Ruf in die Nachfolge im Laufe der Geschichte der Christenheit in vielfältiger Gestaltung aufgenommen und realisiert worden ist – etwa in der Weise einer zeit- und situationsgemäßen Erprobung historischer Vorbilder. Dabei ist eine Umwandlung und Angleichung jeweils erforderlich. Andererseits gibt es auch Beispiele einer mehr oder minder buchstäblichen Weise bloßer Nachahmung, als ließen sich Lebensformen von einst in die Lebenswirklichkeit von Menschen einer anderen Epoche verpflanzen. Eben dies verbaut den innerlichen, mystischen Zugang! Und gerade diese Unterscheidung ist zu machen, will man den ursprünglichen, in den Evangelien symbolisch-gleichnishaft aufgezeigten Ansatz nicht verfehlen. Dieselbe Unterscheidung ist auch zu treffen, wenn man die spirituellen Anweisungen des Buches von der Nachfolge Christi für sich zur Geltung bringen will. Nicht umsonst gibt das Buch (I,5) selbst Hinweise darauf, in welcher Geisteshaltung spirituelle Wortlaute zu lesen und anzuwenden sind.
Dietrich Bonhoeffer, den man von seinem theologischen Ansatz her lange Zeit kaum im Kontext mystischer Erfahrung gesehen hat, gibt bereits in seinem Buch Nachfolge zu erkennen, wie wichtig und unverzichtbar ihm das Gleichgestaltetwerden, die conformitas der Mystik, ist. Denn „das ist die Einwohnung Jesu Christi in unseren Herzen. Das Leben Jesu Christi ist auf dieser Erde noch nicht zu Ende gebracht. Christus lebt es weiter in dem Leben seiner Nachfolger. Nicht von unserem christlichen Leben, sondern von dem wahrhaftigen Leben Jesu Christi in uns ist nun zu reden. ‚Nun aber lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir‘ (Gal 2,20). Der Menschgewordene, der Gekreuzigte, der Verklärte ist in mich eingegangen und lebt mein Leben.5
THOMAS VON KEMPEN UND DIE DEVOTIO MODERNA
So kennt die Kirchengeschichte andererseits auch eine Fülle von Beispielen, an denen deutlich wird, wie groß die Diskrepanz zwischen dem einst ergangenen Wort der Christuserscheinung und der späteren Lebenspraxis spürbar geworden ist. Nach Blütezeiten eines geistlichen Aufbruchs