Es entsteht Mal um Mal das Bedürfnis, die bisherige alte Frömmigkeit durch eine neue zu ersetzen. Das Motto von einer ständiger Erneuerung bedürftigen Kirche (Ecclesia semper reformanda) gilt nach wie vor. Eine solche „neue Frömmigkeit“, eben in Gestalt der Devotio moderna, ist gegen Ende des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden entstanden. Darunter ist freilich nicht eine dem Zeitgeist angepasste und im heutigen Sinn zu verstehende Modernität gemeint, sondern eine Umkehr, wie sie in Zeiten einer spirituellen Veräußerlichung erforderlich wird. Von den niederländischen Provinzen hat sie sich bis ins Elsass und in den oberdeutschen Raum ausgebreitet, beispielsweise durch Brüder und Schwestern eines gemeinsamen Lebens.6
In dieser Devotio fanden sich religiös eingestellte Männer und Frauen zusammen, die bestrebt waren, Arbeit und Frömmigkeit in und mit ihrem Alltag zu verbinden, ohne sich viel um die theologische Theoriebildung und akademische Diskussion zu kümmern. In ähnlicher Weise hatten sich schon früher Beginen (wie die Mystikerin Mechthild von Magdeburg7oder Hadewijch) und (männliche) Begarden zusammengefunden. Damit unterschieden sie sich von ausgesprochen klösterlichen Kommunitäten, deren Mitglieder die drei klassischen Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams auf sich nahmen. Vornehmlich ging es den nicht klösterlich organisierten Religiosen darum, in die Nachfolge Christi einzutreten, um in Zeiten eines äußeren Niedergangs und einer spirituellen Dürftigkeit auf diese Weise das eigene Leben nach dem Leben Jesu und seiner Jüngerschaft einzurichten. Dazu gehörte der Versuch, die Untugenden durch eine evangeliumsgemäße Ethik zu überwinden und den „alten Menschen“ wie ein zerschlissenes Kleid abzulegen. Wie schon aus der älteren Mystik bekannt, ging es ihnen um das innerliche Gleichförmigwerden (conformitas) mit Christus und den urchristlichen Vorbildern.
Wie schon aus den neutestamentlichen Berufungsberichten ersichtlich, ging dies nicht ohne eine Neubesinnung und ohne neue Akzentsetzung vor sich. Das Studium der Heiligen Schrift sollte nicht etwa um der bloßen Pflege einer theologisch-scholastischen Gelehrsamkeit willen betrieben werden. Vielmehr fühlte man sich motiviert, die bisherige, lediglich auf Beachtung der reinen Lehre zielende Orthodoxie durch die Verwirklichung einer konsequenten Orthopraxis zu ergänzen. Ihr hatte die beschauliche Meditation zu dienen. Nur was in der Christus-Nachfolge zur Tat wird, verdient daher Beachtung. Mit anderen Worten:
„In der Absicht dieser Methode beständiger innerer Verarbeitung liegt weniger begriffliches Denken als vielmehr religiöses Empfinden; geistliche Erfahrung hat für die Devotio moderna einen höheren Stellenwert als spekulatives Denken. Mit niederländischem Gespür für das Beständige bleibt sie auf festem Boden, wenn sie erklärt, der Mensch dient Gott, sofern er sein Leben und seine Arbeit als göttliche Berufung versteht und entsprechend gestaltet. Jede ehrbare Tätigkeit hat vor Gott gleichen Wert, und für das Gemeinschaftsleben gibt es weder gestufte Grade noch grundsätzliche Unterschiede. Als wesenhaft persönlich geprägte Frömmigkeit steht die Devotio jedem offen. Ihr Wert ist in ihrem Bemühen selbst beschlossen; daher kann sich jeder im Rahmen seiner Fähigkeiten in sie einbringen und findet dabei Hilfen zur inneren Einübung in Gestalt der Gewissensprüfung, der Sammlung von Lesefrüchten bei der Lektüre erbaulichen Schrifttums ...“8
Was die Vertiefung und Auswertung überkommener und neu gestalteter, der Erbauung dienender Bücher anlangt, so ist damit eine wichtige Besonderheit der Devotio moderna genannt. Gleicherweise ist es das Verdienst des Thomas von Kempen, durch Kopieren, Sammeln und Interpretieren spirituellen Schriftgutes auf lange Zeit hin einen bedeutsamen Beitrag für das geistliche Leben geleistet zu haben. Das Buch Nachfolge Christi (De imitatione Christi) ist daher nicht zufällig mit seinem Namen verbunden. Es gilt als die literarische Perle der ganzen Bewegung.
Aber als der eigentliche Initiator der Devotio moderna gilt Geert Groote (Gerardus magnus; Gerhard Grote; gestorben 1384), offensichtlich eine charismatische Persönlichkeit. Aus einer Patrizierfamilie des niederländischen Deventer stammend, hatte er in jungen Jahren eine wissenschaftliche Karriere durchlaufen. In Paris hatte er den Magistergrad erworben. Er verzichtete jedoch bewusst auf die Erlangung der Priesterweihe, aber um später als Wanderprediger die erforderliche, vom Bischof erteilte kirchliche Redeerlaubnis zu bekommen, ließ er sich zum Diakon ernennen.
Geert Groote empfing geistliche Impulse durch die Kartäusermönche von Arnheim und anlässlich seines Besuchs bei dem Mystiker Jan Ruusbroec (gest. 1381) in dessen Waldeinsamkeit von Groenendaal unweit von Brüssel, wo er mit einigen Mönchen zurückgezogen lebte.9 Er übersetzte Ruusbroecs viel gelesenes Werk Die Zierde der geistlichen Hochzeit10 ins Lateinische. Leiten ließ sich Geert Groote durch die Schriften des Kirchenvaters Aurelius Augustinus und die Predigten des in diesen Kreisen hoch geschätzten Bernhard von Clairvaux. Grootes Lebensmaxime lässt sich als Übung der Nächstenliebe im Aufblick zu Gott beschreiben, wobei ihm wichtig war, die lebensnotwendigen Güter mit Gleichgesinnten, mit seinen geistlich gesinnten Brüdern und Schwestern, selbstlos zu teilen. „Das Leben Jesu ist der Spiegel jedes menschlichen Lebens, der ihn auffordert, durch Selbsterkenntnis und Abwendung der Sünde die Reinheit des Herzens zu erreichen und durch die immer wieder apostrophierte Gleichförmigkeit (conformitas) mit dem Willen Gottes den inneren Frieden zu finden. Bekehrung ist die wahre devotio, die sich im herzinnigen Frohsein zeigt und als schlichter, demütiger und arbeitsamer Lebensstil erscheint.“11
In diesem Zusammenhang entstanden Hausgemeinschaften mit geistlicher Ausrichtung. Das Leben spielte sich in klosterartigen Häusern ab. Die geschwisterliche Gemeinsamkeit fand ihren Ausdruck darin, dass sich Kleriker und sogenannte Laien zusammentaten, um die herkömmliche gesellschaftliche Barriere, die durch die kirchliche Weihe gegeben ist, zu relativieren. Das bedeutete einen Verzicht auf die üblichen Standes- und Ordensattribute sowie die Ablehnung aller geistlichen Privilegien. (Im nachfolgenden Reformationsjahrhundert wird Martin Luther darauf hinweisen, dass im Grunde jeder getaufte Christ bereits einen potenziellen Priester verkörpert.12 ). „Völlig neu war gegenüber früheren Rückgriffen auf das urkirchliche Gemeinschaftsleben ihre Methodik: die intensive Lektüre zur eigenen Erbauung, die Meditation anhand von herausgeschriebenen Merksätzen und die schriftliche Gewissenserforschung: Hier wurde sozusagen die städtisch-rationale Verwaltungspraxis in die private Religiosität übertragen.“13
Ein Zentrum der Devotio moderna, in dem man zum herkömmlichen monastischen Leben zurückkehrte und von dem wiederum Anstöße zu einer Klosterreform ausgingen, entstand in Windesheim bei der niederländischen Stadt Zwolle, wo man nach der Regel der Augustiner Chorherren, also im traditionellen klösterlichen Rahmen, lebte. Die „Windesheimer Kongregation“ mit ihren als „geregelte Stifte“ bezeichneten Reformklöstern breitete sich auch außerhalb der Niederlande aus. In Deutschland und der Schweiz kam es innerhalb kurzer Zeit zu zahlreichen Klostergründungen dieser Art. Das führte nicht zuletzt zu einer Wandlung der inneren Struktur der ganzen Bewegung: „Aus den Brüdern wurden ‚Fraterherren‘. Mögen auch im späteren 15. Jahrhundert die großen Impulse in Spiritualität und Monastik abgeflacht sein, so ist doch die Zahl der geistlich-klösterlichen Niederlassungen angewachsen wie nie zuvor. Von den 47 Klöstern, Konventen und Kapiteln, die es um 1500 beispielsweise im Herzogtum Kleve gab, waren mehr als die Hälfte, nämlich 26, Gründungen des 15. Jahrhunderts.“14 Eben dies entwickelte sich während der Lebenszeit des Thomas von Kempen, der in der Devotio moderna eine wichtige Rolle spielen sollte.
Die Initiative zu den verschiedenen Gemeinschaftformen der Devotio ging, wie erwähnt, von Geert Groote aus. Unterstützt wurde er durch seine ersten Anhänger und Schüler, unter ihnen Florentius Radewijns (gestorben 1400), der auf die Durchbildung eines asketischen Lebens großen Wert legte. Ein Spezifikum Grootes stellte die kirchenkritische Predigt dar. Sie richtete