wer spielt mit den kindern?
wer ersetzt einen freund?
wer hat die neuen ideen?
dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
dass einige von euch dachten
es habe ihm gefallen […]6
Man möge dies als „Gegentext“ neben die in diesem Band wiedergegebene Predigt M.K.F. Gerstners legen. Sein Beharren auf dem „Was Gott tut, das ist wohl getan“ wird damit geradezu als blasphemisch entlarvt. Dabei kann sich Kurt Marti auf die beste biblische Tradition berufen, für die angesichts von Leid und Tod nicht nur die Klage eine angemessene Reaktion ist, sondern auch der anklagende Protest – gegen Gott selbst (vgl. etwa das Buch Ijob). Gerade um die Würde des Leidenden nicht zu verletzen und die Solidarität im Leid zu ermöglichen, darf es nicht religiös überhöht und „ruhiggestellt“ werden. „Protestleute gegen den Tod“ lautet denn auch Martis Definition für die Christen.
Allzu billiger Trost ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Religion. Er begegnet in völlig religionsfernen Totenreden mindestens ebenso deutlich. Das machen in diesem Band nicht zuletzt die hier wiedergegebenen Totenreden von und für prominente SozialistInnen deutlich. Wenn Friedrich Engels am Grab von Karl Marx als Hoffnungsinhalt das Fortleben seines Namens in der Geschichte angibt, dann drängt sich die Frage nach den vielen namenlosen Opfern der Geschichte auf und dann stellt sich gerade für die Vertreter der Utopie einer solidarischen Gesellschaft die Frage nach dem, was Helmut Peukert das „Paradox anamnetischer Solidarität“7 genannt hat: Wie soll diese Solidarität letztlich, ohne sich in einen Selbstwiderspruch zu verstricken, möglich sein, wenn sie die Opfer und die Toten, denen sie sich ja verdankt, ausklammern muss? Und was kann die kompromisslose Praxis für eine Utopie letztlich motivieren, die innerweltlich doch nicht einzulösen ist? Möglicherweise lässt sich der ethische Anspruch, dass der Mörder nicht ewig über sein Opfer triumphieren darf, doch nur, wie Max Horkheimer vermutet, theologisch aufrecht erhalten.
Überzeugender sind da jene Totenreden, die ihre Ratlosigkeit und ihren Schmerz einfach aushalten, auf vorgefertigte Formeln verzichten und keinen anderen Trost gelten lassen als den, dass die verlorene nahestehende Person gelebt hat. In diesem Sinne kann man Karl Kraus’ Rede am Grab Peter Altenbergs lesen.
Dass unser heutiger Anspruch an Authentizität auch das alte Wort De mortuis nil nisi bene in Frage stellt und an dessen Stelle die Ehrlichkeit gegenüber dem Toten treten lässt – auch dafür gibt es Beispiele in diesem Band, etwa Melanchthons Rede für Luther, oder Emersons Totenrede für Henry Thoreau, denen es beiden gelingt, auch kritikwürdige Züge des Verstorbenen angemessen zur Sprache zu bringen.
Grabreden, zumal, wenn es sich um „berühmte“ handelt, haben einen öffentlichen Charakter. Ihr Adressat ist in den meisten der hier dokumentierten Fälle nicht nur ein kleiner Kreis von Hinterbliebenen, sondern die „Öffentlichkeit“ in irgendeiner Form. Das bestimmt auch den vom Redner verfolgten Zweck. Der Tod einer prominenten Person kann so zum Anlass werden, eine öffentliche „Sache“ zu vertreten, wie es etwa Abraham Lincoln in seiner Rede für Henry Clay tat. Das ehrende Gedenken des Toten benutzte er vor allem, um in der Sklavenfrage Stellung zu beziehen. Was hier legitim ist, weil es hinreichend von den Intentionen des Verstorbenen selbst gedeckt ist, birgt jedoch auch die Gefahr des Missbrauchs und der Instrumentalisierung in sich. Auch dies ist im vorliegenden Band belegt. Grabreden partizipieren also auch an der jeweiligen Kultur oder Unkultur politischer Rede. Gerade angesichts der allzu bekannten unrühmlichen Beispiele aus jüngster Zeit in dieser Hinsicht habe ich zum Abschluss dieses Bandes Richard von Weizsäckers Totenrede für Willy Brandt gewählt – ein Beispiel verantworteter öffentlicher Rede, die Ehrung eines Verstorbenen, die zugleich dem zur Ehre gereicht, der ihn würdigt.
Es handelt sich hier – mit einer begründeten Ausnahme – um „berühmte“ Grabreden8: berühmt aufgrund der Qualität der Rede selbst, aufgrund ihres besonderen historischen Kontextes, aufgrund der herausragenden Stellung des Verstorbenen, dem die Rede gilt, oder dessen, dem es zufällt, die Totenrede zu halten. Der Band kann also auch als kleiner Streifzug durch die abendländische Geschichte gelesen werden, illustriert anhand von Grabreden, in denen der Geist einer Epoche, einer Tendenz etc. oftmals in besonders dichter Form zum Ausdruck kommt. So manches Schulwissen aus dem Geschichtsunterricht mag durch die Lektüre dieser Reden Farbe und Anschaulichkeit gewinnen.
Das Adjektiv „berühmt“ wird, sofern es sich auf große Persönlichkeiten bezieht, allerdings durch die Sache selbst Lügen gestraft. So weist auch in diesem Band gerade Jacques-Bénigne Bossuet auf die nivellierende Wirkung des Todes hin, vor der alle sozialen Unterschiede verschwinden, und er wagt es, dem Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. entgegenzuhalten: „Gott allein ist groß, auch Könige müssen sterben!“ Inmitten des Prunks dieser glänzenden Epoche macht er die Stimme des alttestamentlichen Predigers (Kohelet) vernehmbar: Vanitas vanitatum – nichtig und eitel ist alles!
Bruno Kern
1 Schultz, Hans Jürgen, Sprache ist Hoffnung, gehört zu werden, in: ders. (Hg.), Einsamkeit, Stuttgart 1980, 239.
2 Ariès, Philippe, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1981.
3 Dokumentiert in: Kaufhold, Martin, Die großen Reden der Weltgeschichte, Wiesbaden52010, 19 – 29.
4 Vgl. dazu Otto, Gert, Über Totenreden, in: Oesterreich, Peter L./Sloane, Thoas O. (Hg.), Rhetorica movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, Brill 1999, 505 – 507.
5 Mit einer etwas anders lautenden Übersetzung zitiert bei Greshake, Gisbert/Kremer, Jacob, Ressurectio mortuorum. Zum theologischen Verständnis der leiblichen Auferstehung, Darmstadt 1992, 3.
6 Marti, Kurt, Leichenreden, München 2004; das zitierte Gedicht ist auch im Internet zugänglich unter: www.lyrikwelt.de/gedichte/martig1.htm.
7 Vgl. Peukert, Helmut, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a.M. 1976, 308 – 310.
8 Bei etlichen Grabreden waren aufgrund des übermäßigen Umfangs Kürzungen unvermeidlich. Sie wurden jedoch so vorgenommen, dass nicht nur die zentralen Inhalte, sondern auch die Gesamtanlage der Rede deutlich nachvollziehbar bleiben.
„Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden“
Gilgameschs Klage um Engidu
(2. Jahrtausend v. Chr.)
Einführung
Wir stehen hier vor dem ältesten uns bekannten schriftlich überlieferten Mythos der Menschheitsgeschichte und damit an der Schwelle zum Schriftgebrauch, der die Vorgeschichte von der Geschichte trennt. Während bis in die Jungsteinzeit die Erfahrungswelt, das Denken und Empfinden der Menschen,