„Der Tod ist schweigsam. Nur wenn wir gegen ihn anreden, nur wenn wir den Dialog mit den Toten in uns fortsetzen, bleibt etwas, was er uns nicht nehmen kann.“1
Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen unserem ratlosen und erschrockenen Verstummen angesichts des brutalen Faktums des Todes und der Notwendigkeit, selbst diese Situation noch sprachlich bewältigen zu müssen, bewegen sich die in diesem Band dokumentierten Grabreden. Totenreden sind also lebensnotwendig. Der Mensch als das der Sprache fähige Lebewesen besteht die Wirklichkeit, indem er sie benennt. Und da die Dynamik seines Denkens, Wollens und Fühlens über den Horizont des unmittelbar Gegebenen hinausreicht, da er, wie Thomas von Aquin sagt, „quodammodo omnia“, in gewisser Weise alles, ist, sozusagen aufs Ganze geht, sucht er auch da noch nach Sinn, wo jede Empirie ihn scheinbar versagt. Grabreden sind deshalb als ein Ausdruck des Bewältigungsversuches unserer Endlichkeit Teil einer Kulturgeschichte des Todes, wie sie etwa der französische Historiker Philippe Ariès2 zu entwerfen versucht hat. Bereits der erste in diesem Band dokumentierte Text aus dem Gilgamesch-Epos zeigt, dass die existenzielle Beunruhigung aufgrund der Endlichkeit unseres Daseins die Geschichte des Menschen von Anfang an begleitet. Diese Grundkonstante der Menschheitsgeschichte unterliegt jedoch gleichzeitig dem historischen Wandel. Unser konkretes Verhältnis zum Tod wird durch die jeweilige Lebenssituation und historische Ereignisse geprägt: Der Grad der Gefährdetheit des Lebens, die allgemeine Lebenserwartung, die Höhe der Kindersterblichkeit etc. bestimmen die Erfahrung des Todes und den Umgang mit ihm ebenso wie etwa die große Pestepidemie im 14. Jahrhundert, die ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte, die Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts oder die tiefe Verletzung jeglicher Humanität durch industriell durchgeführte Massenvernichtung. Der Tod, der unmittelbar das einzelne Individuum betrifft, ist keine Privatangelegenheit, ganz im Gegenteil: Da er jeden Sinnstiftungsversuch mit einer absoluten Grenze konfrontiert, gefährdet er auch das prekäre Gleichgewicht des sozialen Zusammenlebens. Im Tod steckt ein anarchisches Potenzial. Auch das ist eine Erklärung für den Aufwand an Mythen, Riten, philosophischen und religiösen Systemen, um ihn gleichsam zu zähmen und ihm seinen subversiven Stachel zu ziehen.
Die Grab- oder Trauerrede als Ansprache direkt am Beisetzungsort oder bei einer religiösen oder säkularen Trauerfeier lässt sich auf eine alte Tradition zurückführen. Sie geht unmittelbar aus der – bereits poetisch gestalteten – Totenklage hervor. Die ersten beiden in diesen Band aufgenommenen Textbeispiele – die Totenklage des Gilgamesch aus dem ältesten literarischen Dokument der Menschheit überhaupt und das Klagelied des David für Saul und Jonatan aus der hebräischen Bibel – sollen diesen Ursprung deutlich machen. Die hier wiedergegebene Leichenrede der Aspasia aus der griechischen Antike beruft sich – ebenso wie die berühmte „Gefallenenrede des Perikles“3 – auf einen schon bestehenden Brauch. Man nimmt an, dass diese Sitte bereits zu Zeiten des Homer (8. Jh. v. Chr.) bestand.4 Am Beispiel der Leichenrede der Aspasia wird deutlich, dass wir es hier mit einem stark typisierten literarischen Genus zu tun haben, der in der antiken Rhetorik fest verankert ist. Es handelt sich beim Enkomion (oder in der lateinischen Spielart: laudatio funebris) um Lobreden für Verstorbene, denen ein festgefügtes Schema zugrunde liegt. Der im Lateinischen auch gebräuchliche Ausdruck consolatio deutet auf den Trost als einen wesentlichen Zweck der Rede hin. Gerade in der lateinischen Antike gilt das Trostspenden als eine der nobelsten Aufgaben des Rhetors. Die gängigen, immer wieder anzutreffenden Topoi nehmen vor allem in späterer Zeit auch häufig die Zerrform des Klischees an. In der späten Kaiserzeit erreicht die Form der rhetorisch durchkomponierten Totenrede einen Höhepunkt. Die christliche Antike knüpft in Form und Inhalt direkt an diese Tradition an. Dies wird in diesem Band anhand der Rede des Ambrosius von Mailand für Kaiser Theodosius exemplarisch gezeigt. Aus dem Mittelalter sind uns insgesamt nur sehr wenige Grabreden überliefert. Neben den „Sermones funebres“ des Johann de St. Germiniano in Lyon (14. Jahrhundert) finden sich nur vereinzelt auch deutsche Beispiele. Mit der Predigterlaubnis für die Bettelorden (13. Jahrhundert) findet die Predigt am Grab wieder stärkere Verbreitung. Doch erst mit der Reformation wird die Leichenrede wieder allgemein. Um diesen Epochenumbruch deutlich zu markieren, habe ich aus der Reformationszeit zwei prominente Reden aufgenommen. In der Folgezeit lässt sich auch – noch vor der eigentlichen Säkularisierung – eine Tendenz zu geistlich verbrämten Lobreden feststellen. Die Beispiele für vom christlichen Kontext völlig losgelöste Grabreden stammen in diesem Band aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der exemplarische Längsschnitt durch die abendländische Geschichte erlaubt es nicht zuletzt, den Wandel der ästhetischen Kriterien nachzuvollziehen.
Ein Großteil der hier gesammelten Grabreden hat, wie die europäische Geschichte insgesamt, einen christlichen Hintergrund. Kern des Christentums ist die Hoffnung auf eine individuelle, leibliche Auferstehung der Toten: Mit kaum zu übertreffender Präzision formulierte bereits der frühchristliche Schriftsteller Tertullian, dass dieser Glaubensartikel das Wesen des Christentums selbst ausmacht: Fiducia christianorum resurrectio mortuorum; illam credentes, sumus – Der Glaube der Christen ist die Auferstehung der Toten; sofern wir dieses glauben, sind wir [Christen].5 Bereits in der Barockzeit ist allerdings zu beobachten, dass dieser Bezug nicht immer dominierend ist. Die Geschichte des Abendlandes ist ja gleichzeitig auch die Geschichte der Emanzipation von seinen religiösen Wurzeln und eines Säkularisierungsprozesses, den es in anderen kulturellen und religiösen Kontexten in dieser Weise nicht gegeben hat. Im vorliegenden Band zeugen vor allem die Grabreden aus dem 20. Jahrhundert davon. An ihnen ist allerdings auch deutlich abzulesen, dass auch das säkularisierte Bewusstsein nicht ohne mythologische Bezüge auskommt. An die Stelle konkreter Jenseitsvorstellungen treten etwa Beschwörungen eines kollektiven Sinnzusammenhangs, in dem das verstorbene Individuum seine bleibende Bedeutung behält.
Es ist paradox: Gerade da, wo menschliches Fassungsvermögen an seine deutlichste Grenze stößt, entfaltet die sprachliche Gestaltungskraft häufig in besonders eindrucksvoller Weise ihre Fähigkeiten. So sind gerade Grabreden oftmals Höhepunkte der Rhetorik. Dies gilt von den hier ausgewählten Reden in besonderem Maß etwa für Daniel Casper von Lohensteins Abdankung für Hofmann von Hofmannswaldau, für die „Oraisons funèbres“ des französischen Bischofs Jacques-Bénigne Bossuet, der seine Bedeutung ja weniger als Theologe denn vielmehr als Klassiker der französischen Literatur erlangt hat, für Ludwig Börnes Denkrede für Jean Paul oder auch für Karl Kraus’ Rede am Grabe Peter Altenbergs. Aber auch das genaue Gegenteil lässt sich beobachten! Nicht selten nehmen Totenreden, Nekrologe, Predigten und säkulare Gedenkreden Zuflucht ins Klischee, ins hohle Pathos, manchmal auch in gefährliche Demagogie. Auch hierfür finden sich in diesem Band einige Beispiele. Dazu zählen etwa die Beschwörung von fragwürdigen patriotischen Tugenden in der griechischen Antike (in der „Leichenrede der Aspasia“ nicht ohne ironisierende Absicht dargestellt), die „bestellte“ Rede für Ludwig van Beethoven und natürlich Versatzstücke einer bestimmten Form von christlicher Frömmigkeit. Letztere habe ich hier durch die Aufnahme einer „Modellpredigt“ aus einer Handreichung für professionelle Verkündiger des christlichen Glaubens exemplarisch deutlich zu machen versucht. Als „Antidot“ dazu seien die „Leichenreden“ des schweizerischen reformatorischen Dichterpfarrers Kurt Marti wärmstens empfohlen, der gerade aus einer tiefen Gläubigkeit heraus solche Klischees im wahrsten Sinn des Wortes durchkreuzt. Das hört sich dann etwa folgendermaßen an:
dem herrn unserem gott
hat es gar nicht gefallen
dass gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb
erstens war er zu jung
zweitens seiner frau ein zärtlicher mann
drittens zwei kindern ein lustiger vater
viertens den freunden ein guter freund
fünftens