Peter wischt sich den Schweiß von der Stirn und richtet seinen Rücken auf. Ein Taxi wäre eine gute Idee gewesen. Oder wenigstens eine Fahrt mit dem Bus oder der U-Bahn. Aber Peter war erstens geizig und kannte sich zweitens mit dem Nahverkehrsnetz in London nicht ansatzweise aus. Und eigentlich hatte er nach seiner langen Zugfahrt einfach keine Lust mehr auf öffentlichen Nahverkehr.
Peter atmet noch einmal tief durch, dann setzt er sich wieder in Gang. Er rückt dem lang ersehnten »Hotel«-Schild immer näher. Es hängt es an einem alten Gebäude: hell, fünf Stockwerke hoch, dezent verziert, vermutlich aus der Zeit der Jahrhundertwende. Leider ist wohl seitdem nicht mehr viel an dem Haus getan worden, vermutet Peter. Der Putz bröckelt an einigen Stellen und er ist mit einer feinen dunkelgrauen Schicht von den Abgasen der vergangenen Jahrzehnte bedeckt. Auch das Werbeschild sieht arg mitgenommen aus. Am Fenster hängt eine Leuchtschrift: »Vacancies«. Im Dunkeln muss man das »V« vermutlich erahnen – es schimmert nur noch schwach. Peter beginnt, sich erneut zu ärgern: Er hatte dieses Hotel über eine Internetseite gebucht, in der es sehr viel vollmundiger angepriesen worden war. Da stand etwas von »typisch englischem Charme« – Peter hofft, dass die Engländer mit diesem Hotel nicht bereits ihr gesamtes Charmepotenzial ausgeschöpft haben. Er atmet einmal mehr durch und schleppt sich und sein Gepäck die wenigen Treppenstufen hinauf zum Eingang.
GUTE NACHT – NUR MIT DEM RICHTIGEN SCHILD
Mit den Schildern »Vacancies« (freie Zimmer) und »No Vacancies« (keine freien Zimmer) weisen britische Hotels und Pensionen vor allem in Touristengegenden auf ihre aktuelle Auslastung hin. Man tut vor allem bei Bed-&-Breakfast-Pensionen gut daran, diese Information ernst zu nehmen und nicht dennoch einen Versuch zu unternehmen, ein Zimmer zu bekommen. Meist hängt »No Vacancies« vor der Tür, gerade weil die Betreiber nicht noch 20 weiteren Gästen sagen möchten, dass ihre Betten komplett belegt sind.
Es riecht muffig. Das Haus mag 100 oder mehr Jahre an diesem Standort hinter sich haben – viel gelüftet worden ist in dieser Zeit jedenfalls nicht, mutmaßt Peter. Doch die Atmosphäre gefällt ihm. Die Wände sind weiß, an der Decke hängt Stuck, ein kleiner Kronleuchter ziert den Eingangsbereich, gleich links steht ein schmaler Rezeptionstresen aus dunklem Holz – und fast hätte er den kleinen Mann dahinter übersehen. Mittleres Alter, Haarkranz, penibel gebügeltes Hemd, Manschettenknöpfe: Hier ist es endlich, das England, das Peter erwartet hatte. Der Rezeptionist schaut hoch.
»Guten Nachmittag, checken Sie ein?«, fragt er. Peter stutzt. Denn das eben Ausgesprochene hörte sich eher nach »Gu’Nachtg, Checkn?« an. Was für ein seltsamer Dialekt. Wo war denn das gute alte Oxford-Englisch, das ihm sein Lehrer in der 11. Klasse so penetrant beibringen wollte, als sich Peter nach einem USA-Schüleraustausch tief in seiner Amerikaphase befand. Er war derart angetan vom amerikanischen Lebensstil, dass er auch im Unterricht begann, Worte so wie seine Gastfamilie von der Westküste mit breitestem Akzent auszusprechen. Bis ihn sein Lehrer, Herr Heitmüller, vor die Wahl stellte. Peter beherrschte das amerikanische Englisch als Elftklässler mit drei Wochen USA-Erfahrung bei Weitem nicht so perfekt, als dass er nicht doch immer wieder auf britische Ausdrücke hätte zurückgreifen müssen. »Wenn du amerikanisches Englisch sprechen willst, dann mach es richtig«, hatte ihn Herr Heitmüller damals aufgefordert. »Oder lass es sein.«
Der eingeschüchterte USA-Fan ließ es widerwillig sein.
Schade eigentlich, überlegt sich Peter nun in dieser Sekunde an der Rezeption seines Londoner Hotels. Wenn er das perfektioniert hätte, könnte ich den Herrn vielleicht besser verstehen. Peter lächelt und nickt freundlich. Ja, er möchte gern »nchckn«.
Die Reaktion war offenbar korrekt. Der gebügelte Herr verfällt in eine Prozedur, die Peter als Eincheckphase analysiert.
»Ihr Name, Sir?«, fragt der Rezeptionist. Doch es kommt wieder nur »Nämsör« bei Peter an. Der will gerade höflich nachfragen, was der Herr denn wohl mit seiner Frage gemeint habe, da hält dieser ihm schon eine Anmeldekarte unter die Nase, worauf er bereits die auszufüllenden Felder angekreuzt hat: Name, Anschrift, Zahlungsart, Kennzeichen.
Kennzeichen? Peter macht einen Strich. Er will zwar noch einen Wagen anmieten für den größten Teil seines Urlaubs, doch hier in London verzichtet er dankend auf die aktive Teilnahme am Straßenverkehr. Er hat ausnahmslos Horrorgeschichten darüber gehört.
»Single? Twin? Double?«
Das wird Peter jetzt doch ein bisschen zu persönlich. Ja, er ist seit Kurzem wieder Single, nein, er hat keinen Zwillingsbruder, und Doppel? Sind wir hier beim Tennis? Ach, Blödsinn – Peter begreift es mit leichter Verzögerung: Der Herr fragte lediglich nach dem Zimmerwunsch. »Single«, sagt er, ohne so recht zu begreifen, was der Herr mit »Twin« gemeint haben könnte.
Peter erhält seinen Zimmerschlüssel, nicht ohne noch über die Frühstückszeiten aufgeklärt zu werden: 7 bis 9.30 Uhr. Da heißt es, rechtzeitig aus dem Bett zu kommen. Peter nimmt sein Gepäck und schleppt es die schmale steile Treppe hinauf – seine Frage nach einem Fahrstuhl wurde vom Herrn hinter der Rezeption diesmal lautlos verneint, mit schlichtem Kopfschütteln. Er sei defekt, liest er auf einem Schild, auf das der Herr zeigt. Der Monteur sei benachrichtigt und werde noch heute erwartet, heißt es darauf weiter. Also zu Fuß los.
Peter hat noch nie ein derart verbautes Gebäude erlebt: Auf kleinstem Raum sind in diesem Hotel Unmengen an Treppenstufen integriert. Einmal muss er sogar vier Stufen hinaufsteigen, um einen knappen Meter weiter wieder vier Stufen hinabzugehen, Koffer und Rucksack immer im Schlepptau.
Gefühlte 1000 Stufen weiter ist Peter am Ziel: Zimmer 27. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür. Wow! Peter ist beeindruckt: In so wenig Raum so viele Möbel zu stellen, dürfte eine echte Leistung sein: Kurz nach der Zimmertür beginnt bereits das Bett, im Anschluss die Wand. Links neben dem Bett steht ein kleiner Nachttisch, direkt angrenzend die nächste Wand mitsamt einem kleinen Fenster nach draußen. Rechts neben dem Bett steht ein kleiner Schrank, daneben befindet sich eine geöffnete Tür – vermutlich folgt dahinter das Badezimmer. Alles in allem nicht viel Fläche zur freien Bewegung. Eher Käfighaltung als Biostandards.
Peter hievt sein Gepäck ins Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Neben der Eingangstür entdeckt er nun noch ein kleines Fernsehgerät. Doch auch ein Blick ins Badezimmer heitert ihn nicht weiter auf: Dusche, Waschbecken und Toilette sind darin auf ebenfalls kleinstem Raum untergebracht. Wenn er sich anstrengt, überlegt Peter, müsste er zumindest seine Füße duschen können, während er auf der Toilette sitzt, und sich parallel die Zähne am Waschbecken putzen. Aber wer will das schon?
Peter setzt sich aufs Bett und lässt sich nach hinten fallen. Irgendetwas kommt ihm seltsam vor. Er tastet mit den Händen das Bett ab und blickt auf: Es fehlt eine Federdecke. Peter hat sich auf eine dünne Wolldecke fallen lassen, die auf einem Laken liegt. Mehr gibt es – abgesehen vom Kopfkissen – nicht. Peter überkommt ein leichtes Gefühl von Ekel, als er daran denkt, wann diese Wolldecke wohl das letzte Mal gereinigt worden ist. Er setzt sich auf und erblickt auf dem zweiten Nachttisch zwischen Bett und Schrank erfreut einen Wasserkocher, zwei Becher und ein kleines Körbchen mit Teebeuteln und löslichem Kaffee. Ein Tee nach dieser Anreisetortur – das wäre jetzt genau das richtige. Aber was mag ihm das Hotel dafür berechnen? Das Teuerste an solchen Übernachtungen sind ja meist die Preise der Minibars. Neulich in Paris hatte sein Hotel vier Euro für eine Cola verlangt. Dafür könne er sich einen ganzen Träger kaufen, hatte sich Peter daraufhin an der Rezeption echauffiert. Und nun eine ganze Teeplantage? Sei es drum – Peter lässt es drauf ankommen. Er kocht sich Wasser auf für einen Beutel Earl Grey, lehnt sich einmal mehr zurück und denkt an seine Jugend, die er