Im Grunde nichts – nur sind Theorie und Praxis nicht immer dasselbe. Streng genommen gilt auch im Straßenverkehr des Vereinigten Königreichs die international übliche Regel: Bei Rot stehen, bei Grün gehen – egal, ob für Fußgänger, Auto- oder Fahrradfahrer. Doch in der Praxis hat sich eine andere Verfahrensweise etabliert: Weil der Autoverkehr in Großbritannien viele Jahre als der einzig wahre Weg der Fortbewegung galt, hatte er auch im Straßenverkehr meist Vorrang. Das führte dazu, dass Grünphasen für Fußgänger mitunter überaus selten und vor allem kurz waren. Der kleine Mann von der Straße nahm so sein Schicksal selbst in die Hand: Er überquerte die Straße, sobald sie frei war – egal ob bei Rot oder Grün. Das funktionierte leidlich, wurde oftmals selbst von Polizisten so gehandhabt und etablierte sich mit den Jahren. Und wie es so ist: Einmal etabliert, lassen sich solche heimlichen Regeln nur schwer wieder ändern – auch wenn das Überqueren der Straße bei Rot im Vereinigten Königreich für Fußgänger genauso wenig erlaubt ist wie in den meisten anderen Ländern. Als Kontinentaleuropäer sollte man sich indes durchaus gut überlegen, wann, wo und bei welcher Farbe man auf die andere Straßenseite geht. Der Linksverkehr bewirkt leider auch, dass man in seinen eingefahrenen Bewegungsabläufen instinktiv zur falschen Seite schaut, und im schlimmsten Fall ein Auto auf der Straße übersieht.
Ironie dieser Entwicklung: Die erste Fußgängerampel der Welt stand ausgerechnet in England, vor dem Parlament von Westminster. Sie wurde am 10. Dezember 1868 aufgestellt und glich einem Eisenbahnsignal, das bei Dunkelheit mit Gaslampen betrieben wurde.
Für Autofahrer gilt diese anarchische Entwicklung übrigens nicht: Wer mit seinem Fahrzeug ein Rotlicht missachtet, kann empfindlich zur Kasse gebeten werden. Zudem gilt bei vielen Fußgängerampeln eine Besonderheit: Es gibt neben Grün und Rot noch eine Art Übergangsphase, in der für Autofahrer das Gelblicht blinkt und für Fußgänger das Grünlicht. In dieser Zeit dürfen Fußgänger nicht mehr beginnen, die Straße zu überqueren, sie dürfen aber in Ruhe zur anderen Straßenseite gehen, wenn sie noch zu Beginn des Blinkens damit begonnen haben. Autos dürfen anfahren, sobald sich wirklich kein Fußgänger mehr auf der Fahrbahn befindet – selbst wenn das Gelblicht noch blinkt. Zur Warnung sei gesagt: Briten sind sehr empfindlich, was Drängeln angeht: Selbst wenn sich ein Fußgänger Zeit lässt beim Überqueren der Straße, muss man ihm diese Zeit lassen. In keinem Fall sollte man hupen und erst recht nicht anfahren oder auch nur beginnen zu rollen.
Auch bei Zebrastreifen gilt eine etwas andere Regel als in Deutschland: Autofahrer sollten darauf achten, ob ein Fußgänger den Zebrastreifen überqueren möchte, und dann möglichst auch anhalten – verpflichtet ist man dazu aber erst, sobald ein Passant auch wirklich den Fuß auf der Straße hat. Als Fußgänger bedankt man sich per Handzeichen beim Autofahrer, wenn dieser angehalten hat. Zu erkennen sind Zebrastreifen im Vereinigten Königreich oftmals schon von Weitem durch gelb blinkende Glaskugeln auf einer weißen Stange am Straßenrand. Und mitunter auch durch ältere Damen und Herren in signalgelben Mänteln: Im ganzen Land sind nach wie vor Schülerlotsen im Einsatz, die meist mit großem Ehrgeiz Kinder auf dem Schul- und Nachhauseweg über die Straße geleiten. Wenn ein solcher Lotse mit seinem Schild die Fahrbahn versperrt, tut man als Autofahrer gut daran, umgehend anzuhalten.
Übrigens soll auch der Zebrastreifen in Großbritannien erfunden worden sein: Nach einzelnen Experimenten hielt er dort 1949 in den Straßenverkehr Einzug und wurde 1951 auch gesetzlich verankert. Inzwischen gibt es zumindest testweise Abwandlungen: Sogenannte Tigerstreifen, also gelbe Balken auf schwarzem Asphalt, die formal auch Radfahrern das Recht geben, die Straße zu überqueren, ohne dabei vom Rad abzusteigen.
6
PETER FÄHRT U-BAHN
LONDON, 30. JULI, 9.48 UHR
Es ist noch nicht einmal 10 Uhr an diesem wunderschönen Sommersonnenmorgen in London, doch Peter hat bereits die erste Lektion hinter sich: Welche U-Bahn-Linie er denn nehmen müsse, um zum British Museum zu kommen, wollte er an der Rezeption wissen. »Central oder Piccadilly Line«, hatte die Dame geantwortet, »Sie können hier in die Circle oder District Line einsteigen und dann am Monument wechseln.« Das war eine zu große Informationsdichte auf einen Schlag für Peter: Er wollte doch lediglich die Nummer der U-Bahn-Linie wissen.
BRITISH MUSEUM
Das British Museum wurde 1753 gegründet und ist nach eigenen Angaben das erste öffentliche staatliche Museum der Welt. Noch heute gilt es als das größte und vor allem als eines der bedeutendsten kulturhistorischen Museen der Welt. Rund sechs Millionen Besucher zählt es jährlich. Der Grundstock des British Museums geht auf den Naturwissenschaftler Sir Hans Sloane zurück, der seine umfangreiche Sammlung an Kunstgegenständen und historischen Stücken dem britischen Staat unter König Georg II. vermachte.
Nun steht er in der Station Tower Hill und begreift langsam, weshalb die Informationsdichte so hoch war: Es scheint keine Liniennummern zu geben – die Schilder weisen ausschließlich auf die mit einem grünen Streifen versehene District Line hin sowie auf die Circle Line, die mit einem gelben Strich markiert ist. Mit Zahlen haben sie es wohl nicht so, denkt sich Peter, und macht sich auf zum Fahrkartenautomaten. Der ist, wie sich herausstellt, kundenfreundlich mit einem Monitor versehen und kann sogar auf die deutsche Sprache umgestellt werden. Peter ist hoch erfreut: Üblicherweise kommt er mit solchen Geräten im Ausland nicht zurecht. Am Ende zahlt er dann viel mehr als nötig, weil er sich mit den richtigen Klicks und Tarifzonen nicht auskennt. Oder auch zu wenig: In Berlin war er einmal von einem Kontrolleur in der S-Bahn mit einem falschen Ticket erwischt worden und hatte 40 Euro Strafe zahlen müssen. Das würde er nun gern vermeiden und studiert deswegen den kleinen Liniennetzplan unter dem Monitor penibelst. Dass die Schlange an potenziellen Fahrkartenkäufern hinter ihm immer länger wird, nimmt Peter gar nicht wahr.
Erst nach einigen Minuten feinster Recherche hat Peter herausgefunden, dass er bis zur Station Holborn fahren muss – und die liegt in der Tarifzone 1, wie der Tower Hill auch. Die Schlange hinter ihm atmet erleichtert auf.
Mit seinem scheckkartengroßen Pappticket in der Hand macht sich Peter schließlich auf in Richtung Bahnsteig. Und das ist leichter als gedacht: Er lässt sich einfach von der Menge treiben und landet so unweigerlich vor einer Absperrung aus einer Reihe flacher, mauerähnlicher Kästen, zwischen denen jeweils zwei schmale Flügeltüren hängen. Peter begreift: In einen Schlitz am rechten Ende muss er sein Ticket stecken, um die Absperrung zu öffnen. Hinter ihm bildet sich erneut eine kleine Schlange, als er überlegt, wie herum er seine Fahrkarte denn nun in den Schlitz stecken muss. Er macht es dem Herrn nach, der gerade neben ihm durch die Absperrung tritt – Schrift nach oben. Die Flügeltüren öffnen sich, Peter tritt hindurch und zwar schnellen Schrittes, denn unmittelbar hinter sich vernimmt er bereits das Schließgeräusch der Absperrung.
Geschafft! Über nicht gerade kurze Wege hangelt sich Peter zum Bahnsteig vor – um beim Einfahren der U-Bahn erst einmal reflexartig einen Schritt zurückzusetzen: Der Zug fährt mit einer Geschwindigkeit in die Station ein, die der öffentliche Nahverkehr in seiner Heimatstadt noch nicht mal auf freier Strecke erreicht. Peter steigt ein und hält sich prophylaktisch mit beiden Händen an einer Stange fest. Seine kurzzeitige Sorge, ob er denn wohl den richtigen Zug erwischt habe, zerstreut sich durch eine freundliche Ansage aus dem Lautsprecher: »Dies ist ein District-Line-Zug nach Richmond.« Die Richtung stimmt – das hatte Peter bei seinem Studium des Liniennetzplans herausgefunden. Und auch die übervorsichtige Entscheidung, sich gut festzuhalten, entpuppt sich als durchaus sinnvoll: Im Eiltempo ist der U-Bahn-Zug in der nächsten Station eingetroffen – Monument, Peters Umsteigepunkt.
Er macht sich auf die Suche nach dem Bahnsteig für seine Weiterfahrt. An jenem, an dem er sich gerade befindet, geht es offenbar nicht zum Ziel: Die Zuganzeige unter der Decke listet ausschließlich Züge aus Richtung Tower Hill auf. Also muss es anderswo weitergehen: »Way Out«, Ausgang, steht auf einem Schild. Er beschließt, diesen Weg einzuschlagen, bemerkt dann aber doch noch rechtzeitig den kleinen Hinweis auf die Central Line daneben. Und mit dieser