Nebra. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Hannah Peters
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948093457
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      Sie waren jetzt weit genug in den hinteren Teil des Allerheiligsten vorgedrungen. An diesen Ort fiel kaum noch Tageslicht. John drehte den Kopf, dann nickte er zufrieden.

      »Hier sind wir richtig«, sagte er. »Es ist gleich hier drüben, komm.«

      Er kramte in seiner Umhängetasche und holte eine Taschenlampe hervor, durch deren abgewetzte Lackschicht das blanke Metall schimmerte. Der Lichtstrahl schnitt wie ein Skalpell durch die Dämmerung. John schritt die linke der hinteren Begrenzungsmauern entlang, während er seine Hand über den Sandstein gleiten ließ. Seine Finger tasteten über Wölbungen und Einbuchtungen, die in jahrelanger Arbeit kunstvoll aus dem Stein geschlagen worden waren. Hatschepsut galt als Gründerin der rundplastischen Abbildung, einer Reliefform, die besonders weich und naturalistisch anmutete. Die Szenen zwischen Menschen und Göttern wirkten wie aus einem Bilderbuch.

      »Hier.« Er blieb stehen und deutete auf eine Darstellung, die den Wechsel der Jahreszeiten darstellte. Zu sehen waren der Nil bei Hoch- und bei Niedrigwasser, Aussaat und Ernte, die Wanderung von Sonne und Mond sowie der Wandel der Gestirne. Dazwischen war die Abbildung eines Schiffes zu sehen: einer Sonnenbarke.

      Hannahs Augen glänzten, als sie das Relief bestaunte. Die Darstellung zeugte von besonderem Können. Selbst die feine Holzmaserung war zu erkennen.

      Hannah holte ihre Fotografie hervor und hielt sie neben den Stein.

      »Sie ist kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe.«

      »Trotzdem ist sie eines der wichtigsten Symbole des alten Ägyptens«, erläuterte John. »Auf ihr tritt der Sonnengott seine tägliche Fahrt über den Himmel an. Er beginnt seine Fahrt als Chepre, das Kind, setzt sie mittags, zum Mann gereift, als Re fort und beendet sie abends als Atum, der Greis – nur, um sich am folgenden Tag wieder zu erneuern, in einem immerwährenden Kreislauf. Übertragen auf die Lebensspanne eines Menschen, gewinnt diese Vorstellung eine tiefe Symbolik, findest du nicht?« Er beobachtete Hannah aus dem Augenwinkel heraus. »Verrätst du mir jetzt, was es damit auf sich hat?«

      »Weiß ich noch nicht.« Sie schien irgendwie abgelenkt. Ihre Augen huschten hin und her, als suchten sie etwas.

      »Nicht?« John blickte sie verwundert an. »Wolltest du nicht den Beweis für die Verbindung zwischen Ägyptern und Nordeuropäern haben? Hier ist er. Dasselbe Symbol. Sogar die Linien auf der Schiffsseite sind identisch. Hier drüben sind Sonne und Mond dargestellt, hier die Scheibe, da die Sichel, genau wie auf der Himmelsscheibe.«

      »Stimmt.«

      John runzelte die Stirn. »Ich habe den Eindruck, du suchst gar nicht nach der Sonnenbarke.«

      Ein schmales Lächeln huschte über ihren Mund. »Du kennst mich viel zu gut.«

      John stemmte die Hände in die Hüften. »Raus mit der Sprache: Was ist es?«

      Hannah tippte mit dem Finger auf den Sandstein. »Das hier.«

      John trat näher. Er blickte auf eine seltsame Gruppe von Punkten am steinernen Himmel, die wie der Pfotenabdruck eines kleinen Tieres wirkte.

      Hannah blies etwas Staub fort, der sich dort angesammelt hatte. »Darf ich mal deine Taschenlampe haben?«

      Er reichte sie ihr, und sie ließ den Lichtstrahl über die betreffende Stelle wandern. Dabei blickte sie immer wieder auf die Fotografie. »Sieben«, sagte sie leise. »Es sind genau sieben.«

      John nickte. »Die Plejaden? Ist es das, was du gesucht hast?«

      Hannah nickte. »Tu einfach so, als hättest du es mit einem total Ahnungslosen zu tun, und erzähl mir mal, was du darüber weißt. Immerhin bist du ja Astroarchäologe.«

      Täuschte er sich, oder lag da ein Hauch Ironie in ihrer Stimme? Lächelnd wandte er sich der Felsdarstellung zu. Dann sagte er: »Na gut: Preisfrage. Was haben die Plejaden mit japanischen Autos gemeinsam?«

      Hannah runzelte die Stirn. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

      »Keine Idee?« Sein Lächeln wurde breiter.

      »John, bitte.«

      »Na gut. Subaru. Schon mal gehört? Der japanische Ausdruck für das Siebengestirn.«

      Hannahs Gesicht blieb ausdruckslos.

      »Die Automarke.«

      »John

      Enttäuscht zuckte er mit den Schultern. Es war unübersehbar, dass sein Humor auf unfruchtbaren Boden gefallen war. »Also schön. Was willst du wissen?«

      »Alles. Nur nichts über japanische Autos.«

      »Trockene Fakten also«, sagte er. »Ganz wie du willst.« Er musste kurz in seinem Gedächtnis kramen, um die Fakten abzurufen. »Die Plejaden sind ein offener Sternenhaufen im Sternbild des Stiers. Sie umfassen etwa fünfhundert relativ junge Sterne, die in einen blau leuchtenden Nebel eingebettet sind. Die Entfernung zur Erde beträgt etwa vierhundert Lichtjahre. Astronomisch gesprochen, liegen sie also in unmittelbarer Nachbarschaft. In der griechischen Mythologie waren die Plejaden die sieben Töchter des Atlas, die von Zeus an den Himmel versetzt worden sind, zum Schutz vor dem Jäger Orion. Gemeinsam mit den Hyaden bilden sie das Goldene Tor der Ekliptik. Dieser Name rührt zum einen daher, dass sie in ihrer Mitte von der scheinbaren Sonnenbahn durchzogen werden, und zum anderen vom Umstand eines sich verschiebenden Frühlingspunktes. Noch bis etwa zweitausend vor Christus lag dieser Punkt, den man seit jeher mit Wachstum und Fruchtbarkeit gleichsetzte, im Sternbild des Stiers. Im Laufe der Jahrhunderte ist er jedoch nach Nordwesten gewandert.«

      »Aha.« Hannahs ratlosem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte sie nur die Hälfte verstanden. »Würdest du sagen, die umliegenden Sternenbilder hier an der Wand entsprechen in etwa dem Nachthimmel, wie er vor dreitausendfünfhundert Jahren über dem Nil zu sehen war?«

      John nahm Hannah die Taschenlampe aus der Hand und trat einen Schritt zurück. »Also hier im Norden ist Auriga, der Fuhrmann, zu sehen, Lepus, der Hase, im Süden, im Osten Gemini, die Zwillinge. Aries, der Widder, im Westen. Ja, alles da, soweit ich das beurteilen kann.«

      »Wie würde sich der Himmel einige tausend Kilometer weiter nördlich darstellen?«

      »Du meinst dort, wo die Scheibe gefunden wurde?«

      »Ja.« Hannah warf ihm einen gespannten Blick zu.

      »Genauso. Nur alles in Richtung Süden verschoben.«

      »Etwa in dieser Art?« Sie hob die Fotografie in den Lichtkegel.

      John verglich die Darstellung der Himmelsscheibe mit dem Relief und runzelte die Stirn. Hier stimmte gar nichts. Nicht ein einziger Stern war da, wo er hingehörte. Während auf der ägyptischen Darstellung die Sternbilder genau rekonstruiert worden waren, herrschte auf der Himmelsscheibe ein einziges Durcheinander, ein beinahe willkürlich anmutendes Chaos. Das war in der Tat höchst ungewöhnlich.

      »Jetzt siehst du, vor welchem Problem ich stehe«, sagte Hannah.

      »Seltsam«, sagte John. »Man dürfte doch annehmen, dass die Erbauer, wenn sie sich schon die Mühe machen, eine Scheibe zu konstruieren, mit der sich der Lauf der Gestirne und der Jahreszeiten festlegen lässt, auch die umgebenden Sternbilder halbwegs korrekt abbilden würden. So schwierig ist das nicht. Die betreffenden Sterne sind mühelos mit bloßem Auge zu erkennen.«

      »Nicht nur das«, sagte Hannah, während sie auf das Foto blickte. »Die Erbauer scheinen jegliche Übereinstimmung tunlichst vermieden zu haben. Wir haben das Muster wieder und wieder durch den Computer laufen lassen, vergeblich. Danach haben wir das Programm umgeschrieben, in der Hoffnung, vielleicht irgendwelche Muster zu erkennen. Fehlanzeige. Die Verteilung erscheint völlig willkürlich.«

      John legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist genau das beabsichtigt gewesen, auch wenn es keinen Sinn ergibt.«

      »Nein.« Hannah schüttelte entschieden den Kopf. »Nichts an dieser Scheibe