Nebra. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Hannah Peters
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948093457
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mit dem Kopf und deutete auf die rechte Seite. Dort waren zwei weitere Pflöcke, an denen die ohnmächtigen Gestalten eines Mädchens und eines Jungen hingen. Beide aus ihrer Jahrgangsstufe.

      Er nickte. Langsam fiel ihm alles wieder ein. Die Klassenfahrt – das Hexenfest in Thale – die nachmittägliche Wanderung. Hatten sie nicht eine Höhle gefunden? Doch, so war es gewesen. Sie wollten sie noch schnell erkunden, ehe der Bus losfuhr. Hatten sie nicht gewartet, bis der Rest der Klasse samt Lehrern lärmend und palavernd im Wald verschwunden war? Und hatten sie dann nicht kehrtgemacht und waren in die Finsternis des Berges eingetaucht? Zwei Jungen und zwei Mädchen – die beste Kombination für eine Mutprobe.

      Nun ja, manche Fehler machte man nur einmal im Leben.

      Etwa fünfzig Meter weit waren sie in die Höhle eingedrungen, ehe sie das Ende erreicht hatten. Die Blonde hatte zum Aufbruch gedrängt. Was, wenn der Bus ohne sie losfahren würde? Die werden schon auf uns warten, hatte er erwidert, während er dem anderen Mädchen – dem mit den schwarzen Haaren – aufmunternde Blicke zugeworfen hatte. Wenn wir uns beeilen, haben wir sie eingeholt, noch ehe sie unsere Abwesenheit bemerken. Zum krönenden Abschluss und zum Beweis seiner Unerschrockenheit hatte er seine Taschenlampe ausgemacht.

      Er erinnerte sich, wie vollkommene Dunkelheit sie einhüllte – eine so allumfassende Dunkelheit, dass sie buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnten. Und dann hatte die Schwarzhaarige seine Finger berührt. Lächelnd hatte er sie zu sich herangezogen und sie geküsst. Und sie hatte seinen Kuss erwidert. Ein schöner Zustand, den er gern länger ausgekostet hätte. Doch in diesem Moment war ihm ein schmaler Lichtstreifen aufgefallen, der aus einer Öffnung knapp über dem Boden schimmerte. Er hatte seine Taschenlampe wieder eingeschaltet und tatsächlich, da war ein Spalt, gerade breit genug, dass man sich auf dem Bauch liegend hindurchzwängen konnte. Lass uns nachsehen, hatte er vorgeschlagen. Wo mag wohl das Licht herkommen? Nur noch ein kurzer Blick, dann gehen wir zurück. Die anderen hatten zugestimmt. Hätten sie ihn doch zurückgehalten. Der Spalt war verdammt eng. Sie waren weitergekrochen, bis sich die Decke so weit hob, dass sie auf allen vieren weiterrobben konnten. Dann endlich hatten sie es geschafft. Ihre krummen Rücken aufrichtend, hatten sie sich umgesehen. Niemals würde er diesen Anblick vergessen. Er erinnerte sich, wie sie mit offenen Mündern dagestanden hatten und nicht fassen konnten, was sie da entdeckt hatten. Es war, als hätten sie Ali Babas Höhle betreten. Stäbe, Schwerter, Kelche, selbst ein schimmernder Wagen war zu sehen gewesen, gezogen von einem goldenen Pferd. Ein Schiff hatte dort gestanden, mit gebogenem Rumpf und goldenen Segeln. Beleuchtet wurde die Höhle von Fackeln, die ihr Licht verschwenderisch auf die unermesslichen Reichtümer ergossen. Und dann dieser riesige Stein. Ein Monolith, in dessen feuchter Schwärze sich das Licht der Flammen auf widernatürliche Art spiegelte. An seinen Seiten befanden sich Vertiefungen, in die wertvoll aussehende Scheiben eingelassen waren. Eine Art Kultstein oder Altar?

      So geblendet waren die Jugendlichen von der Pracht und dem Glanz, dass sie die beiden merkwürdigen schmutzigen Haufen in der Ecke des Raumes gar nicht bemerkt hatten. Bis zu dem Augenblick, als diese sich bewegten …

       »Wach auf!«

      Sein Kopf ruckte aus dem Halbschlaf hoch. Wie es schien, pulsierte immer noch genug von dem Schlafmittel durch seine Venen, um damit eine Herde Elefanten zu betäuben. Verwundert blickte er sich um. Der hintere Teil der Höhle hatte sich während seiner Ohnmacht mit Menschen gefüllt. Sie waren in seltsame Kostüme gehüllt. Wie heidnische Priester sahen sie aus, wie Relikte einer längst vergangenen Zeit. Sein Blick blieb an einer halbnackten Frau hängen, die vor die Menge getreten war und langsam zu tanzen begann. Die Haare hochgesteckt und die Augen schwarz geschminkt, sah sie aus wie eine Hexe. Die Menge wiegte sich im Takt der Musik, während der Tanz sich langsam steigerte. Die Bewegungen der Frau hatten eine beinahe hypnotische Wirkung. Der Junge spürte, wie ihm die Augen wieder zufielen.

      »Verdammt, reiß dich zusammen!«, flüsterte das Mädchen. »Untersteh dich, wieder einzuschlafen.«

      Den Protest seines schlaftrunkenen Körpers ignorierend, schlug er die Augen auf. Diesmal, so schwor er sich, würde er nicht mehr einschlafen.

      »Schau dir das an.« Das Mädchen lenkte seinen Blick auf ihre zusammengebundenen Hände – ihre ehemals zusammengebundenen Hände. Im Schatten des Pfostens sah der Junge einen etwa einen Meter langen Lederstreifen liegen. Das Mädchen bewegte die Arme, um ihm zu zeigen, dass sie sich befreit hatte. Er runzelte die Stirn. Wie war ihr das nur gelungen? Beim zweiten Hinsehen bemerkte er, wie etwas in ihren Händen aufblitzte. Ein Taschenmesser. Er hob den Kopf und nickte. Respekt blitzte in seinen Augen.

      In diesem Moment endete der Tanz der seltsamen Frau. Ein großer hagerer Mann betrat die Höhle. In Tierfelle gehüllt und mit den Hörnern eines Rehbocks auf der Stirn, sah er aus wie der leibhaftige Teufel. Sein Körper, sein Gesicht, ja selbst seine Haare und sein Bart waren mit roter und schwarzer Farbe bemalt. Die darunterliegende Haut wirkte, als wäre sie mit einer Schicht Lehm bedeckt. Seine Erscheinung glich eher einem Tier als einem Menschen. An seiner Seite krochen zwei große grauschwarze Gestalten. Mit ihrem zotteligen Fell, ihren vorgereckten Schnauzen und den langen dreckverkrusteten Klauen erinnerten sie an Wölfe. Doch es waren keine Wölfe, dessen war er sich sicher.

      Ein Raunen ging durch die Höhle, während die Anwesenden respektvoll vor den Neuankömmlingen zurückwichen. In vielen Gesichtern stand Furcht. Der Junge hielt den Atem an. Er kannte diese Wesen. Es handelte sich um dieselben widerwärtigen Kreaturen, die er beim Betreten der Höhle für schmutzige Haufen gehalten hatte. Er konnte sich noch erinnern, wie schnell sie sich bewegt hatten, welch ungeheure Kraft sie befähigt hatte, aus dem Stand mehrere Meter weit zu springen. Und er erinnerte sich an ihren Geruch. Auch jetzt meinte er wieder diesen modrigen Gestank nach Walderde und Pilzen wahrzunehmen.

      Der Teufelsmensch durchschritt die Höhle und trat auf die Hexe zu. In einer Art ritueller Geste berührte er sie an den Brüsten und zwischen den Beinen. Dann ging er zum Feuer hinüber und zog einen Metallstab aus den Flammen. Er hob ihn hoch und warf einen Blick auf dessen glühende Spitze.

      Der Junge hatte kaum Zeit zum Nachdenken, da wurde er von der schmutzigen Hand des Mannes am Genick gepackt und nach vorn gebeugt. Ein widerwärtiges Zischen war zu hören, verbunden mit einem kurzen, heftigen Stechen in der Wirbelsäule. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Ebenso schnell, wie er gepackt wurde, ließ man ihn wieder frei. Der Junge rang nach Atem, als der Schmerz einsetzte. Er war vor Angst so gelähmt, dass er kaum mitbekam, wie der Teufel das Mädchen packte und ihr den Stab ins Genick drückte. Der Junge hörte ihren Schrei, bemerkte aber, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken behielt. Ohne einen Funken Mitleid fuhr der Peiniger fort. Zweimal noch hob sich das Eisen, zweimal war das widerwärtige Zischen zu hören, dann waren die vier Eindringlinge gebrandmarkt. Der Mann kehrte zum Feuer zurück und legte das Eisen wieder in die Glut. Die Luft war zum Schneiden dick. Den allgegenwärtigen Schweißgeruch überlagerte der Gestank nach verbranntem Fleisch. Ihrem Fleisch. Der Junge spürte, wie ihm schlecht wurde.

      »Was wollt ihr bloß von uns?«, wimmerte er. »Warum könnt ihr uns nicht einfach laufen lassen. Wir haben doch nichts verbrochen.« Seine Stimme verebbte.

      »Zwecklos«, keuchte seine Freundin. »Ich glaube nicht, dass sie uns verstehen.«

      »Was redest du da?«, stammelte er. »Wieso denn nicht?«

      »Ich habe sie beobachtet. Sie unterhalten sich in einer völlig fremden Sprache«, zischte das Mädchen. »Aber still jetzt. Wer weiß, was ihnen sonst noch einfällt.«

      Panik stieg in dem Jungen auf. Der Schmerz, ihre Gefangennahme, diese seltsamen Menschen – es war einfach zu viel für ihn. Er wollte seine Angst unterdrücken, aber er konnte nicht. »Warum redet ihr nicht mit uns?«, stieß er hervor. »Was seid ihr für Typen? Was wollt ihr von uns?«

      Wie ein Verrückter begann er an seinen Fesseln zu zerren. »Lasst uns frei! Ich will hier weg. Bitte, wir haben doch nichts getan.«

      »Hör auf«, flüsterte das Mädchen. »Du machst alles nur noch schlimmer.« Zu spät. Der Teufelsmensch war auf ihn aufmerksam geworden. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck kam er zu ihnen herüber.