Das Mädchen nickte und rannte mit hocherhobener Fackel in den Gang. Die beiden Jungen versuchten ihr zu folgen, so schnell es eben ging. Nur weg von den Schreien, den Flüchen und dem Gestank. Nichts wie weg aus diesem Alptraum.
Instinktiv folgten die drei dem sich verzweigenden Höhlensystem, immer weiter und weiter. Die Zeit schien endlos, doch schließlich spürten sie einen frischen Luftzug auf der Haut. Der Ausgang! Nur noch wenige Meter, und sie waren im Freien. Nach Luft ringend, taumelten sie auf eine Lichtung. Über ihnen waren Sterne zu sehen. Der Vollmond warf ein fahles Licht über das Land.
»Wohin?«, keuchte das Mädchen.
»Egal«, antwortete der Junge. »Hauptsache, weg.«
Hals über Kopf stolperten die drei den Berghang hinab. Die Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, und mehr als einmal stolperten sie über eine Wurzel. Sie fielen hin, rappelten sich wieder auf und hasteten weiter. Die Fackel erlosch, doch das war nicht mehr wichtig. Der Mond gab ihnen mehr als genug Licht.
Eine halbe Stunde später erreichten sie die Straße, die zum Berg hinaufführte. Erschöpft und zerschunden versuchten sie, sich zu orientieren. Der Mond begann gerade hinter dem Berg zu versinken. Ein geisterhaftes Licht lag über dem Wald. Nebelschwaden waren aufgestiegen, die wie die Seelen verstorbener Bergwanderer zwischen den Baumwipfeln hingen. Der Gipfel war in ein geheimnisvolles Licht getaucht.
Es war Walpurgisnacht.
2
Zwanzig Jahre später.
Deir el-Bahari, Ägypten
Der Wüstensand knirschte unter Hannahs Schuhen, als sie den gewundenen Pfad emporstieg. Ein kühler Wind strich vom Nil herauf und fuhr raschelnd durch das Schilf, das rechts und links des Weges stand. Einige ausgefranste Wolken hingen träge am Himmel, der zu dieser frühen Stunde von unzähligen Mauerseglern bevölkert wurde. Hier unten im Tal war es noch dunkel, aber das Morgenlicht streifte bereits die Ränder des Plateaus, hinter dem die Wüste begann. Von irgendwo wehte der Gesang des Muezzins herüber.
Es würde wieder ein heißer Tag werden.
Die Archäologin blieb kurz stehen. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und band ihre widerspenstige rotbraune Lockenpracht mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Man hatte ihr schon oft Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht, aber sie gab nichts auf solche Äußerlichkeiten. Hier in der Wüste war gutes Aussehen völlig bedeutungslos. Viel wichtiger waren ein scharfer Verstand und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie wusste, dass man früh aufstehen musste, wenn man nicht in die Mittagsglut geraten wollte. Es war eine alte Angewohnheit von ihr, kurz vor Sonnenaufgang aufzustehen. Sowohl die Morgenstunden als auch die Zeit, wenn die Sonne wieder hinter dem Horizont verschwand, waren für Hannah die schönste Zeit des Tages. Für sie, die sich seit annähernd fünfundzwanzig Jahren mit den Schätzen vergangener Kulturen beschäftigte, hatte die Vergänglichkeit ihren eigenen Reiz. Die Vergänglichkeit des Tages ebenso wie die von Kulturen, ja ganzer Epochen. Es waren diese Momente, die sie den unablässigen Strom der Zeit am deutlichsten spüren ließen.
Sie ging in die Hocke, nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch ihre Finger rieseln. Die feinen Körner glitzerten in der Sonne.
Hannah spürte die Jahrtausende, die in diesen Kristallen lagen. Was hatten diese Körner schon alles gesehen! Den Aufstieg und Fall von Imperien, von Kulturen, die immer mächtiger wurden, ehe sie wieder im Nebel der Zeit verschwanden. Was sie hier mit der Hand fühlte, war pure, unverfälschte Geschichte, und sie spürte das Geheimnis, das in jedem einzelnen dieser Kristalle lag.
Man hatte ihr immer nachgesagt, dass sie über eine besondere Gabe verfüge, eine Gabe, die es ihr ermöglichte, zum Kern der Dinge vorzustoßen – die Wahrheit darin zu erkennen. Ob das stimmte, wusste sie bis zum heutigen Tage nicht. Klar war nur, dass sie nicht wie andere Menschen war.
Sie blies den Sand von ihren Fingern und hob den Kopf. Die Luft war erfüllt von Modergeruch, ein Geruch, der ihr selbst nach einer Woche Ägypten immer noch fremd war. Der Nil roch, man konnte es nicht anders ausdrücken. Er überzog das Land mit einer Duftglocke, die nur an kühleren Tagen etwas an Intensität verlor. Das Wasser stank, die bewachsenen Uferzonen stanken, die Bewässerungsgräben stanken, ja selbst die Felder verströmten diesen unangenehmen Fäulnisgeruch. Andererseits – dies war der Geruch der Fruchtbarkeit. Ohne das träge dahinfließende Wasser, ohne den fruchtbaren Schlamm, der in jüngerer Zeit immer mehr durch Düngemittel ersetzt wurde, hätte es niemals das Reich der Pharaonen gegeben, wären niemals die gewaltigen Bauwerke entstanden, die sich, einer Perlenkette gleich, den Fluss entlangzogen.
Der Nil. Längster Fluss der Erde. Ein breites Band aus schlammigem Grün, das sich über sechstausend Kilometer quer durch den Kontinent zog. Sein Geruch war der Preis für den Wohlstand, den er brachte. Auch heute noch garantierte er reiche Erträge und einen nicht abreißenden Strom bildungswütiger Pauschaltouristen. Der Nil war das Leben, die Quelle, die Hauptschlagader inmitten dieses trockenen und unfruchtbaren Landes. Ohne ihn gäbe es hier nichts. Dafür konnte man den Gestank schon fast wieder lieben.
Hannah überquerte eine kleine Kuppe und sah unvermittelt ihr Ziel vor sich liegen. Ein Hügel, der sich, einer Burganlage gleich, vor die steile Abbruchkante geschoben hatte und das Flussbett von der dahinterliegenden Wüste trennte. Hier endete jegliche Vegetation. Die wenigen Felder oberhalb des Plateaus waren nicht der Rede wert. In Hannahs Augen wirkte ihre Anwesenheit ohnehin unpassend. Sie waren Teil eines Projekts zur Neuerschließung von Land, das jedoch aus Kostengründen nur halbherzig verfolgt wurde. Pumpen kosteten Geld, und wenn man sie abschaltete, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Wüste sich ihr Territorium zurückeroberte. Der Felsen, der sich wie eine Nase vorwölbte, beherbergte eine der schönsten ägyptischen Tempelanlagen überhaupt. Eine Anlage, deren Geheimnisse erst in den sechziger Jahren vollständig entschlüsselt wurden. Es war die Zeit, in der das gesamte obere Niltal dem Assuanstaudamm zum Opfer fiel. Weniger eine Zeit der Archäologen denn eine Zeit der Architekten und Ingenieure. Immerhin ging es darum, einige der bedeutendsten Baudenkmäler der Welt zu versetzen. Die Verlegung von Abu Simbel oder Sakkara verschlang Unsummen und erforderte den Sachverstand eines ganzen Heeres von Technikern. Es war nur natürlich, dass sich das Interesse der Weltöffentlichkeit auf diese Mammutprojekte richtete und dabei übersah, dass nebenan weiterhin interessante Neuentdeckungen gemacht wurden. Eine dieser Entdeckungen betraf den Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari. Die gewaltige Anlage lag im Westteil von Theben, das dem berühmten Tal der Könige vorgelagert ist. Für Hannah war dieser Tempel so interessant, weil er einige Darstellungen enthielt, die ihr bei der Lösung eines aktuellen Problems helfen sollten. Ein Problem, das nur am Rande mit Ägypten oder der Wüste zu tun hatte. Ein Problem, bei dem sie Hilfe brauchte.
John Evans erwartete sie am obersten Absatz der Tempelanlage. Der Wind zauste seine Haare, während er da stand, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und beobachtete, wie sie die zweimal einhundertzwanzig Stufen zu ihm hinaufstieg. Sein Gesicht lag im Schatten, doch sie konnte erkennen, dass er lächelte. Die Monate in der Wüste hatten ihm gutgetan. Braun und schlank war er. Welch ein Gegensatz zu ihr, die sie das letzte Jahr in Deutschland verbracht hatte. Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als sie selbst in der Sahara geforscht hatte, auf der Suche nach urzeitlichen Felsmalereien.
»Guten Morgen«, sagte er, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sie nur kurz ergriff und schnell wieder losließ. Wenn er enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken.
»Ist das