»Was hat dir dann die Reise nach Ägypten überhaupt gebracht? Ich meine, abgesehen von der Gelegenheit, mich wiederzusehen.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf. Doch Hannah schien nicht nach Flirten zumute zu sein. »Ich weiß nicht«, sagte sie, und ihre Stimme war durchzogen von tiefer Resignation. »Irgendwie hatte ich gehofft, eine Spur zu finden. Hätten die Ägypter ihren Sternenhimmel ebenfalls als chaotisches Muster dargestellt, so hätte man daraus schließen können, dass diese Art der Darstellung für diese Epoche eben üblich gewesen ist. Jetzt aber muss ich mir eingestehen, dass es, bei aller Ähnlichkeit, eben doch bedeutende Unterschiede gibt. Unterschiede, die das Rätsel um die Scheibe noch größer machen.« Enttäuscht rollte sie die Fotografie zusammen und packte sie zurück in ihre Umhängetasche. »Ich fürchte, ich habe dich völlig umsonst herbestellt. Bitte verzeih mir.«
»Für mich hat sich der kleine Ausflug auf jeden Fall gelohnt. Immerhin durfte ich dich wiedersehen.« Er musterte sie aufmerksam. »Was wirst du jetzt tun?«
Hannah seufzte. »Keine Ahnung. Wie es scheint, werde ich nach meiner Heimkehr wieder bei null anfangen müssen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich das meinem Chef beibringen soll.« Ungehalten klemmte sie sich die Tasche unter ihren Arm und wandte sich zum Gehen. »Zerbrich dir nicht den Kopf meinetwegen. Ich komme schon klar. Auf jeden Fall bin ich dir über alle Maßen dankbar, dass du dir die Zeit genommen hast.«
»Du wirst mich doch auf dem Laufenden halten, oder?«, fragte John. »Wenn du ein Problem hast, melde dich bitte. Ich würde dir gerne helfen, wo immer ich kann.«
Hannah zögerte. Tausend Gedanken schienen ihr im Kopf herumzuschwirren, tausend Worte, die unausgesprochen waren. Für einen kurzen Moment glaubte John, es käme doch noch zu der erhofften Aussprache. Doch dann entschied sie sich für die kurze Fassung.
»Danke«, sagte sie. »Danke für alles, und lebe wohl.«
John beobachtete, wie sie den Tempel verließ und auf der großen Prachttreppe in Richtung Fluss ging. Immer kleiner und kleiner wurde sie, während ihr Schatten sich langsam in der unendlichen Weite der Wüste verlor. Eine unerwartete Traurigkeit überfiel ihn. Auf einmal erinnerte er sich an alles, was er ihr noch hatte sagen wollen, all die Fragen, die er noch hatte stellen wollen. Zu spät.
Als sie nur mehr stecknadelkopfgroß war, drehte er sich um und ging in Richtung des Ostflügels. Nicht mehr lange, und die Touristen würden wie die Heuschrecken einfallen, schwatzend, lärmend und von dem Geräusch unentwegt klickender Fotoapparate umgeben. Seinen Schritt beschleunigend, durchquerte er die Ruhmes- und die Krönungshalle, schritt vorbei an dem Brunnen des Lebens und der Pforte des Sonnengottes. Als er die Statue von Thutmosis erreicht hatte, blieb er stehen. Obwohl niemand zu sehen war, wusste er, dass er nicht allein war.
»Ist sie fort?«
Die Stimme kam hinter der nächsten Säule hervor. Eine kräftige dunkle Männerstimme mit einem seltsamen Akzent. John bemerkte eine Bewegung im Sand. Einer der Schatten hatte seine Position verändert. Für einen kurzen Moment war er versucht, zu dem Besucher hinüberzugehen, verwarf den Gedanken aber wieder. Es gab sicher einen Grund, warum er unentdeckt bleiben wollte.
»Ja«, entgegnete John. »Sie ist gegangen.«
»Gut. Es ist besser, wenn sie von meiner Anwesenheit nichts erfährt. Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet?«
John tastete nach dem verborgenen Aufnahmegerät. »Ja. Müsste geklappt haben.«
»Sehr gut. Und die Fotografien?«
John überprüfte den Sitz der Mikrokamera an seinem Kragenknopf. Der Auslöser war mit seiner Armbanduhr gekoppelt. »Ich habe getan, was Sie mir gesagt haben. Das Relief, die Fotografie und natürlich Hannah selbst. Alles drauf, vorausgesetzt, Ihre Technik hat funktioniert.«
»Seien Sie unbesorgt.« Der Mann gab ein Lachen von sich, das wie ein Räuspern klang. »Die Geräte haben noch nie versagt.«
Eine Pause entstand, und dann sagte John: »Wenn Sie mich fragen, ich glaube, Hannah ist da auf eine hochinteressante Sache gestoßen.«
»Die Verteilung der Sterne?«
»Allerdings«, sagte John. »Hannah hat recht. Ich glaube auch nicht, dass das Zufall ist. Wenn ich zurück bin, würde ich die Sache gern überprüfen.«
»Tun Sie das. Nehmen Sie sich ein ganzes Team, wenn es nötig ist. Und wenn Sie recht haben, zögern Sie nicht, Frau Peters die Informationen zuzuspielen. Vermutlich genügt ein kleiner Hinweis, um die Sache ins Rollen zu bringen.«
John nickte. »Ich hoffe nur, dass wir sie damit nicht in Gefahr bringen. Ehrlich gesagt, mir ist nicht ganz wohl dabei. Wenn es stimmt, was Sie mir an Informationen gegeben haben, ist an der Scheibe mehr dran, als wir ahnen.«
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Wenn ich recht habe – und ich irre mich selten –, dann könnte das einer der bedeutendsten Funde werden, an dem Sie und ich, und vor allem Frau Peters, jemals beteiligt waren. Und ich glaube, sie kann einen Erfolg in der jetzigen Situation gut brauchen.«
4
Donnerstag, 17. April
Die Frau schritt in Begleitung einer kräftig gebauten Beamtin durch den mit grünem PVC ausgelegten Gang der Landesvollzugsanstalt Halle an der Saale. Sie trug keine Handschellen oder vergleichbare Fesseln. Auch ihre Kleidung ließ nicht darauf schließen, dass sie bereits viele Jahre hinter Gittern verbracht hatte. In Trainingshose und Sweatshirt gekleidet, die Füße in abgewetzten Sportschuhen steckend, hätte man sie nie für eine Mörderin gehalten. Doch genau das war sie. Eine Killerin. Sie hatte jemanden umgebracht. Kalt, geplant und mit tiefer innerer Überzeugung.
Ihr Stiefvater war ein Schwein gewesen. Ein Säufer und Choleriker, wie er im Buche stand, mit einem Hang, sich vorzugsweise an Wehrlosen zu vergreifen. In diesem Fall an einer Mutter und ihren beiden Töchtern. Cynthia war zum Zeitpunkt der Tat gerade vierundzwanzig geworden und somit dem vollen Strafmaß ausgesetzt gewesen. Fünfzehn Jahre, so hatte das Urteil gelautet. Es hätte genauso gut siebenhundert Jahre lauten können, ihr wäre es egal gewesen. Damals hätte sie den Schlüssel am liebsten für immer fortgeworfen, hätte sich am liebsten für immer hinter Beton, Glas und Stahl versteckt. Nie wieder wollte sie in die normale Welt zurückkehren, das hatte sie sich geschworen.
Die Frau, die an diesem Donnerstagmorgen durch den Gang schritt, hatte mit der Cynthia von einst nichts mehr gemeinsam. Die ersten Jahre im geschlossenen, später im offenen Vollzug hatten aus ihr einen neuen Menschen gemacht. Nicht unbedingt einen besseren, nur einen anderen. Schritt für Schritt war sie wieder ins Leben zurückgekehrt, hatte Personen getroffen, die sie mochte und denen sie etwas bedeutete, hatte eine Ausbildung zur Pflegerin gemacht und seit kurzem damit begonnen, schwerstbehinderte Kinder zu betreuen – eine Aufgabe, die sie mit tiefer innerer Zufriedenheit erfüllte. Zwischen acht und achtzehn Uhr leitete sie eine Gruppe, die sie liebevoll »Downies« nannte, Kinder, die unter Trisomie-21 litten. Sie spielte mit ihnen, bastelte, machte Ausflüge, ging mit ihnen zum Essen, brachte sie auf die Toilette – kurzum, sie war wie eine Mutter zu ihnen. Dass man ihr eine solch verantwortungsvolle Stelle angeboten hatte, zeigte, für wie vertrauenswürdig man sie hielt. Die Tatsache, dass sie über Nacht wieder zurück in den Bau musste, änderte nichts daran. Cynthia hatte sich in all den Jahren nicht das Geringste zuschulden kommen lassen, galt als intelligent, aufmerksam und zurückhaltend. Dass sie nebenher ihren ersten Dan im Taekwondo abgelegt hatte, bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Es unterstrich ihren Ehrgeiz, ins normale Leben zurückkehren zu wollen. Noch drei Jahre, dann hatte sie es geschafft, dann war sie wieder ein freier Mensch.
»Cynthia Rode?« Der Wachhabende, der vor dem Besucherraum stand, war neu hier. Ein junger, gutaussehender Bursche