„Wissen von Forschenden kann nur in Bezug auf deren politische Position gebildet werden.“ 34 Das heißt: Der Wissenschaftler sieht die Welt durch die Brille seiner politischen Einstellung. Damit ist jede Wissenschaft letztlich Ideologie. Dann allerdings wäre auch Haraways Wissenschaft nur Ideologie. Die Schwierigkeit für Donna Haraway ist also, einerseits die Objektivitätsansprüche der Wissenschaft zu dekonstruieren, aber andererseits den eigenen Objektivitätsanspruch aufrechtzuerhalten. Deshalb ist für sie ein neuer Objektivitätsbegriff notwendig. Ihr Vorschlag: „Unterworfene Standpunkte werden bevorzugt, weil sie angemessenere, nachhaltigere, objektivere, transformierendere Darstellungen der Welt zu versprechen scheinen.“ 35
Donna Haraway argumentiert in ihren Begriffen im Sinne der „kritischen Theorie“. Die entstand aus der Forderung von Karl Marx, dass wahre Philosophie nicht über die Welt nachdenken, sondern sie verändern solle. Die „kritische Theorie“ ist nicht, wie die Naturwissenschaft, vom Interesse an Objektivität und Wahrheit geleitet, sondern ihr Ziel ist die Veränderung der bestehenden Gesellschaft. Objektiver Wissenschaft darf weder ein Dogma noch ein Konsens vorgeschaltet werden, sondern es muss methodisch korrekt geforscht werden, und diese Forschung muss ergebnisoffen sein. Gender-Theorien sind also keine Naturwissenschaft, sondern Handlungskonzepte zur Veränderung der Welt.
Dass sich Donna Haraway ihrer Sache keineswegs sicher ist, offenbart sie mit der Sentenz „zu versprechen scheinen.“ Was also, wenn das Versprechen nicht hält und der Schein trügt? Mit welchem Kriterium könnte man eine solche Theorie verifizieren oder falsifizieren? Wer bestimmt, was der „richtige“ Standpunkt ist? Man muss schon sehr naiv sein zu glauben, dass „die Unterworfenen“ jemals die Deutungshoheit über die „richtige Weltanschauung“ hatten. Erinnern wir uns: Aristoteles hatte behauptet, dass ein schwerer Stein schneller fällt als ein leichter. Das wurde 1500 Jahre so geglaubt, weil die Autorität Aristoteles´ so übermächtig war, dass niemand es wagte, seine Aussagen anzuzweifeln. Erst Galileo Galilei bewies durch seine Experimente, dass beide gleich schnell fallen. Erstmals hatte die Menschheit mit der empirischen Wissenschaft eine Methode gefunden, die Wirklichkeit unabhängig von einer „richtigen“ Weltanschauung oder der Autorität eines Forschers zu beschreiben. Galilei, Newton oder Einstein haben Ihre Forschung bestimmt nicht aus dem „unterworfenen Standpunkt“ betrieben. Wären ihre Erkenntnisse besser oder anders, wenn sie mit einer anderen politischen Einstellung gefunden worden wären?
Mit der Gender-Wissenschaft fällt die Menschheit endgültig in das vorwissenschaftliche Zeitalter zurück, nachdem wir schon auf diesem Weg sind, seit das materialistische Weltbild zur maßgeblichen Weltanschauung mutierte. Heute entscheidet in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen die „richtige“ Weltanschauung darüber, wer auf einen Lehrstuhl berufen wird. Wer es wagte, die Evolutionslehre Darwins oder die anthropogene Klimaerwärmung in Zweifel zu ziehen, wird sicher nicht auf einen Lehrstuhl berufen. Und Forschungsgelder erhält nur, wessen Projekte den politischen Mainstream nicht in Frage stellen. So wurde beispielsweise die Forschung über die Ursachen von Homosexualität vollständig eingestellt. Das Absurdeste ist, dass an den Universitäten inzwischen etwa 200 Lehrstühle für Gender Studies eingerichtet wurden, deren erklärtes Ziel es ist, die Wissenschaft zu dekonstruieren.
5. Der große Irrtum
Natürlich kann man sich eine passende Wirklichkeit konstruieren, aber das ändert an der real existierenden nichts. Doch es hat dramatische Folgen für unsere Zukunft. So schrieb Konrad Lorenz 1982 in Voraussicht der Gender-Ideologie: „Der Irrglaube, dass man aus dem Menschen … schlechterdings alles machen kann, liegt den vielen Todsünden zugrunde, welche die zivilisierte Menschheit gegen die Natur des Menschen begeht. Es muss übelste Auswirkungen haben, wenn eine weltumfassende Ideologie samt der sich daraus ergebenden Politik auf einer Lüge begründet ist.“ 36 Da der Sozialismus von einem unrealistischen Menschenbild ausging, musste er an diesem Grundirrtum immer wieder scheitern: „Die schlichte ….. Wahrheit ist, dass der „eigentliche Mensch“ seit je da war – in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld. Der Irrtum der Utopie ist also ein Irrtum der Auffassung vom Wesen des Menschen.“37
Das falsche Menschenbild beginnt mit der Illusion, dass der Mensch frei wäre. Sigmund Freud hat wiederentdeckt, was Paulus schon im 7. Kapitel des Römerbriefes beschrieben hatte: Dass der Mensch eben nicht Herr im eigenen Hause ist. Aber diese zentrale Erkenntnis wollen die „aufgeklärten“ Zeitgenossen bis heute nicht hören, weil dann das gesamte Projekt „neuer Gender-Mensch“ schon im Ansatz gescheitert wäre. „Mit Abscheu zitiert Skinner am Schluss seines Buches ‚Was ist Behaviorismus?‘ Konrad Lorenz mit dem Satz, wonach der Menschheit die größte Gefahr dadurch drohe, dass der Mensch seiner nie ganz Herr zu werden wisse.“ Skinners Antwort: „Wenn das wahr wäre, wären wir verloren.“ 38 Also durfte es nicht wahr sein.
„Aber was geschah mit dem Bösen, der Macht der Destruktivität?“ fragte Horst-Eberhard Richter. Die Antwort: „Seiner Bewältigung dienten verschiedene geistreiche Versuche zur Verleugnung oder Relativierung. Was diese Verdrängungsmanöver bewirkten, war aber nur, die gefährlichen Kräfte unsichtbar zu machen.“ 39 Dass diese Kräfte sehr real sind, wusste besonders Freuds Schüler C. G. Jung: „Es ist nicht wahr, das wir einzig mit der Ratio und dem Willen auskommen. Wir sind ganz im Gegenteil beständig unter dem Einfluss von störenden Mächten, die Vernunft und Willen durchkreuzen, das heißt, sie sind stärker als das letztere…“ 40
Das Wesen des Menschen insgesamt, seine moralische Ambivalenz, seine Sehnsucht nach dem Paradies und seine Suche nach Sinn, waren den Materialisten seit jeher ein Rätsel. Er sei ein „Irrläufer, eine groteske Laune der Natur. Er ist Teil der Natur und doch transzendiert er die Natur. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich in der Natur nicht zu Hause fühlt, das sich aus dem Paradies vertrieben fühlen kann.“, 41 fand Erich Fromm. Als Jude wusste er aus seiner Bibel, dass in der Urzeit etwas Entscheidendes mit dem Menschen „schief gelaufen“ war. „Obwohl Mann und Frau einander unverhüllt gegenübertraten, schämten sie sich nicht, weil sie sich nicht als Fremde erfuhren, sondern als „eins“. Nach dem Ereignis, das wir „Sündenfall“ nennen, „empfinden sie die tiefste Scham, die es gibt: einem Mitmenschen „nackt“ gegenüberzutreten und sich dabei der gegenseitigen Entfremdung bewusst zu sein, die sie voneinander trennt.“ 42 Diese „Entfremdung“ des Menschen von sich selbst, vom Nächsten und von seiner Umwelt sieht Fromm als das zentrale Thema des Menschen: „Der Mensch aller Zeiten und Kulturen steht der Lösung dieser einen und immer gleichen Frage gegenüber: Wie die Getrenntheit überwunden, wie man das eigene individuelle Leben transzendieren und eins werden kann.“ 43
Die Lösung des Problems haben gerade neomarxistische Denker erstaunlich gut erkannt. So schrieb Theodor W. Adorno: „Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann. (…) der Mangel an Liebe ist der Mangel aller Menschen ohne Ausnahme, so wie sie heute existieren.“ 44
So konnte sich die Hoffnung der Moderne mit ihrer Sicht vom Menschen als einer „biologischen Maschine“ nicht erfüllen: „Das Ziel der Aufklärung, die vollständige Befriedigung aller instinktiven Wünsche, ist nicht nur keine Basis für das Glück, sondern garantiert nicht einmal minimale seelische Gesundheit.“ 45 Bleibt ihm also nur das „Lustprinzip“, „das einzige Ziel und die entscheidende Kraft, welche die menschliche Gesellschaft entwickelt.“ 46 Aber Erich Fromm weiß, dass auch die Sexualität nur eine Scheinlösung ist: „Die sexuelle Orgie … wird zu dem verzweifelten Versuch, der durch die Getrenntheit erzeugten Angst zu entkommen und resultiert in einem immer stärker wachsenden Gefühl der Einsamkeit, da der ohne Liebe vollzogene Geschlechtsakt die Kluft zwischen zwei menschlichen Wesen höchstens für einen kurzen Augenblick überbrücken kann.“ 47
Das Fazit des Marxisten Erich Fromm ist daher: „Wenn es wahr ist – was ich darzulegen versuchte- … dass die Liebe die einzig befriedigende Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz ist, dann muss jede Gesellschaft, die die Entwicklung zur Liebe ausschließt, an ihrem Widerspruch … zur menschlichen Natur zugrunde gehen.…“48