Nein, ich will ihn nicht! Er verletzt mich zu sehr.
Doch manchmal fühle ich mich gut mit ihm.
Ja, aber er saugt dabei all’ meine Energie auf.
Aber er ist so ein guter Typ.
Nein, ist er nicht! Er ist ein Trottel!
Aber seine liebevolle Seite würde zum Vorschein kommen, wenn ich bei ihm einziehen würde.
Huch! Das wäre eine Katastrophe. Ich wünschte, er würde nach Alaska ziehen!
Oh Gott, ich würde ihn vermissen! Es würde mich ein Vermögen kosten ihn zu besuchen.
Ich liebe ihn!
Ich hasse ihn!
Ich liebe ihn!
Ich hasse ihn!
Liebe ich ihn?
Hasse ich ihn?
Wenn wir unsere normale Ambivalenz akzeptieren, erreichen wir ein tieferes Selbstverständnis und treffen bessere Entscheidungen in komplexen Lebensfragen. Das Zulassen ambivalenter Gefühle ist einer der Heilungsprozesse der Psychotherapie. Wenn Klienten ermutigt werden, ihre widersprüchlichen Gefühle in Bezug auf Berufs- oder Beziehungsfragen gründlich zu erforschen, verbinden sie sich schließlich mit einem tiefen intuitiven Gefühl dafür, was für sie am besten ist.
Ausgeprägte Ambivalenz-Erfahrungen können beunruhigend sein. Dabei sind wir häufig versucht, impulsiv eine Entscheidung zu treffen, nur um unser Unbehagen zu beenden. Ich traf die schlechtesten Entscheidungen in meinem Leben, als ich nicht den Mut und die Selbstachtung hatte, bei meiner Ambivalenz zu bleiben, und als ich nicht verstand, dass kluge Entscheidungen manchmal nur durch monatelange oder gar jahrelange Ambivalenz entstehen. Das ist ein Grund, warum Carl Jung sagte, dass die Toleranz von Ambivalenz eine hoch entwickelte emotionale Fähigkeit sei und ein Indikator für psychische Gesundheit.
Es ist auch wichtig, hier eine häufige dysfunktionale Reaktion auf Ambivalenz zu erwähnen. Einige Überlebende »mentalisieren« ihre Ambivalenz in Ambiguität. Wenn ihre ungleichen Gefühle nicht direkt erlebt werden, sickern sie als verschwommene Sorgen und Verwirrung ins Bewusstsein und sie werden dadurch gelähmt, Entscheidungen zu treffen und Handlungen auszuführen, die gut für sie wären. Dies ist kein gesunder Umgang mit Ambivalenz. Funktionale Ambivalenz beinhaltet eine emotionale – manchmal »trauerbehaftete« – Erforschung der tiefsten Ebenen eines Konflikts. Meiner Erfahrung nach wird eine effektive Lösung dann möglich, wenn alle Gefühlsinhalte rund um eine bestimmte Entscheidung gründlich durchlebt werden.
Im Laufe unserer emotionalen Reifung entspannen wir uns zunehmend in unserer Ambivalenz. Wir akzeptieren die existenzielle Tatsache, dass wiederkehrende Erfahrungen von Ambivalenz in bestimmten Beziehungen normal sind. Wir erlauben uns, unser gesamtes Gefühlsspektrum zu erfahren und unsere Gefühle unseren Nächsten auf gute Weise zu vermitteln. Wir sind weniger anfällig für destruktive Spaltungen, weil wir unsere Gefühle nicht verdrängen und nicht in gefährlichem Maße anhäufen.
Das Akzeptieren von Ambivalenz schützt uns auch vor innerer Spaltung. Die häufigste Störung des Selbstwertgefühls, die ich erlebt habe, tritt auf, wenn verleugnete Gefühle plötzlich ins Bewusstsein eindringen und den Einzelnen dazu veranlassen, sich im überwältigenden toxischen Gefühl der Scham abzuspalten. Je ganzheitlicher wir fühlen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass wir uns vollständig von unserem Selbstwertgefühl abspalten.
Ambivalenz und Spiritualität
Je mehr man im spirituellen Leben wächst, desto wohler fühlt man sich mit paradoxen Gefühlen, desto mehr schätzt man die Ambivalenz des Lebens, seine vielen Ebenen und die ihr innewohnenden Konflikte. Man entwickelt einen Sinn für die Ironie, Metapher und den Humor des Lebens und die Fähigkeit, das Ganze mit seiner Schönheit und Ungeheuerlichkeit in der Gnade des Herzens anzunehmen.
— Jack Kornfield
Während viele religiöse Traditionen davon ausgehen, dass Gott allgegenwärtig ist, reagieren wir auf unsere innere Gefühlswelt oft, als wäre sie ein trostloser, gottloser Ort. Der mystisch-poetische Dichter Rilke schrieb beredt darüber, wie unnötig dies ist:
Ach, nicht getrennt sein,
Nicht durch so wenig Wandung
Ausgeschlossen vom Sternen-Maß.
Innres, was ists?
Wenn nicht gesteigerter Himmel,
durchworfen mit Vögeln und tief
von Winden der Heimkehr.
Wenn wir die »negative« Hälfte unserer emotionalen Erfahrung überhand-nehmen lassen, schließen wir daraus, dass Gott dort nicht zu finden ist. Es ist, als würden wir sagen, dass unsere »negativen« Emotionen gottlos und kein nützlicher Teil der Schöpfung seien. Wenn wir dies tun, lassen wir Satan real werden und schaffen eine Teufelshölle in uns. Gefühle, die als unheilig verbannt werden, manifestieren sich unbewusst auf teuflische Weise.
Einige meiner tiefsten Öffnungen für die Liebe Gottes und die direkte Erfassung der Allgegenwart Gottes geschahen dadurch, dass ich mich endlich den zuvor verleugneten Gefühlen hingegeben habe. Diese Öffnungen offenbarten sich meist als reine und tiefe Ambivalenz.
Erfahrungen reiner Ambivalenz öffnen manchmal unser Bewusstsein für das transzendentale »Einssein«, das alle Polaritäten vereint. Taoisten glauben, dass eine unsichtbare, zugrunde liegende Einheit alle Unterschiede verbindet und harmonisiert. Dies wird durch die Glyphe des Tao symbolisiert, die beide Hälften eines Kreises vereint und zeigt, dass jede Hälfte den Samen ihres Gegenteils enthält.
Ich hatte schon mehrmals das Glück, in einer Umgebung von großer natürlicher Schönheit die Ahnung von einer tieferen, alles durchdringenden Einheit zu erhaschen. Als ich einmal auf einer Wanderung in den Bergen unterwegs war und die Tiefen meiner Einsamkeit von Grund auf empfand, stieß ich auf ein Panorama von solcher Pracht, dass ich sofort in Ehrfurcht erstarrte. Die außerordentliche Schönheit vor mir erfüllte mein Herz mit Freude. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich lachte laut, als ich spürte, wie ich geistig und emotional mit einer wohlwollenden Kraft verschmolz, die die Quelle und das einigende Wesen von allem zu sein schien. Der moderne Mystiker R.M. Bucke beschreibt eine ähnliche Erfahrung:
Nun kam eine Phase der Verzückung, die so intensiv war, dass das Universum stillstand, als ob es über die unsagbare Majestät des Schauspiels staunen würde. Nur Einer im ganzen unendlichen Universum! Der Alles-Liebende, der Vollkommene … In diesem wunderbaren Moment dessen, was man als himmlische Glückseligkeit bezeichnen könnte, kam die Erleuchtung … Welche Freude, als ich sah, dass es keinen Bruch in der Kette gab – nicht ein Glied ausgelassen – alles an seinem Platz und zu seiner Zeit. Welten, Systeme, alles verschmolzen zu einem harmonischen Ganzen.
Im Fluss
Auch wir, die Kinder der Erde, haben das ganze Jahr über unsere Mondphasen; die Dunkelheit, die Befreiung von der Dunkelheit, das Zu- und Abnehmen.
— Faith Baldwin
Es ist wahnsinnig amüsant, wie viele verschiedene Gefühlszustände man an einem Tag durchlaufen kann.
— Anne Morrow Lindberg
Ambivalenz anzunehmen bedeutet nicht, dass man sich immer ambivalent fühlt. Wie bereits zuvor erwähnt gibt es viele Momente, in denen wir keine emotionale Resonanz zeigen und überhaupt nichts fühlen. Es gibt auch viele Male, in denen es angebracht ist, nur das eine oder andere emotionale Extrem zu empfinden.
Ambivalenz zu akzeptieren ist nur eine der Möglichkeiten, wie wir ganzheitlicher fühlen können. Es ist eine Art und Weise, die unersetzliche Wohltat der emotionalen Flexibilität und des emotionalen Fließens zu gewähren.
Mit Im Fluss wird das sich ständig verändernde, unvorhersehbare Auf und