Polarität zu verstehen hilft uns mit normaler Einsamkeit umzugehen
Viele Menschen haben große Schwierigkeiten, die Normalität einsamer Gefühle zu akzeptieren. Viele Überlebende stürzen sofort in tiefen Selbsthass, wenn sie sich einsam fühlen. Ein gewisses Maß an Einsamkeit ist dem menschlichen Wesen jedoch absolut immanent – ganz gleich, wie viele liebevolle Menschen es in unserem Leben gibt. Mit den Worten von Irwin Yalom, einem Vertreter der existenziellen Psychotherapie ausgedrückt:
Mensch zu sein bedeutet, einsam zu sein. Mensch zu werden bedeutet, neue Formen zu erforschen, in unserer Einsamkeit zu verweilen. Wenn wir bereit sind, die Einsamkeit als normale, wiederkehrende Lebenserfahrung zu akzeptieren, können wir lernen, sie wohlwollender zu integrieren. Wir müssen die Einsamkeit oder andere »negative« Emotionen nicht noch schmerzhafter machen, indem wir Scham, Selbstaufgabe oder Selbsthass hinzufügen.
Ambivalenz
Man bleibt jung, solange man noch lernen, neue Gewohnheiten annehmen und Widerspruch ertragen kann.
— Marie von Ebner Eschenbach
Wir alle haben nicht nur zwiespältige Gefühle, sondern sind oft auch ambivalent in Bezug auf jedes Gefühl, das wir haben. Die meisten von uns waren zuweilen eifersüchtig, neidisch, arrogant, misstrauisch, doppelzüngig, offen, ehrlich und direkt, und wir alle haben zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Gefühle gegenüber diesen Gefühlen. Dies sind keine guten und schlechten Gefühle, die besonders guten und schlechten Menschen vorbehalten sind. Es sind menschliche Gefühle, die typisch für alle Menschen sind und in unterschiedlichem Maße bei uns allen auftreten, wenn wir mit inneren und äußeren Umständen interagieren.
— Theodore Rubin, Sich selbst annehmen. Der Weg vom Selbsthaß zum positiven Ich
Von all den komplexen emotionalen Erfahrungen ist die Ambivalenz möglicherweise die am meisten verunglimpfte und missverstandene. Ambivalenz tritt auf, wenn ein Individuum gleichzeitig gegensätzliche emotionale Erfahrungen macht.
Ambivalenz ist auch der Zustand des schnellen Schwankens zwischen widersprüchlichen Gefühlen. Haben Sie jemals eine dieser Arten von Ambivalenz erlebt? »Ich weiß nicht, ob ich dich liebe oder hasse – ob ich will, dass du bleibst oder gehst«; »Du machst mir eine Höllenangst, aber ich schlage dich, wenn du näher kommst«; »Ich möchte mich bei dir verletzlich fühlen, aber ich bin nicht sicher, ob ich dir vertrauen kann«; »Ich liebe Golf, aber wenn der verdammte Ball weiter slict, hasse ich mich dafür, diesen Sport zu treiben«; »Ich liebe die Melodie in diesem Lied, aber der Text kotzt mich an!«.
Fast jeder fühlt sich irgendwann einmal ambivalent. Ambivalenz tritt häufig bei der Arbeit oder in einer Beziehung auf, wenn ein Teil von uns seine Arbeit oder seinen Partner liebt und ein anderer Teil von uns ihn oder sie hasst. In der Tat ist es praktisch unmöglich, eine langfristige intime Beziehung aufrechtzuerhalten, ohne gelegentlich verwirrende Kombinationen von Zuneigung und Entfremdung zu erleben. In weiterem Sinne ist es auch nicht möglich, ein empfindsames Wesen zu sein, ohne verwirrende Mischungen aus Begeisterung und Verzweiflung über das Leben zu empfinden.
Obwohl man nach gängiger Meinung für sein Leben immer dankbar sein sollte, schwanken wir alle gelegentlich zwischen dem Wunsch, dass das Leben ewig dauern solle, und dem Wunsch, dass es vorbei wäre. In Momenten großer Tragödien oder Verluste haben wir natürlich das Gefühl, dass das Leben ein schrecklicher Fluch ist und dass wir tot besser dran wären.
Fast jeder denkt irgendwann qualvoll über Hamlets berühmte Zeile »Sein oder nicht sein« nach. Freud glaubte zum Beispiel, dass das Leben ein ständiger Kampf zwischen dem Trieb zu leben und zu sterben sei – zu frohlocken, dass man am Leben ist oder es zu beenden und die wiederkehrenden Schmerzen hinter sich zu lassen. Er nannte diese Ambivalenz den Konflikt zwischen den psychischen Kräften von Eros und Thanatos.
Natürlich werden wir alle eines Tages sterben. Könnte es nicht sein, dass die Psyche den Drang hat, sich dem Tod hinzugeben, wenn unsere Lebensqualität genügend geschmälert ist? Die Forschungen von Elisabeth Kübler-Ross zeigen auf eindrückliche Weise, dass die Trauer es uns auf natürliche Weise erlaubt, uns auf diesem letzten Weg zu entspannen, wenn unsere Zeit gekommen ist.
Ich glaube auch, dass wir uns auf einen gnädigen Tod vorbereiten, indem wir die Trauer über all unsere Verluste in Vergangenheit und Gegenwart zulassen. Die Praktik des Trauerns kann uns davor bewahren, unnötig gegen den Todesprozess anzukämpfen, wenn dieser unumkehrbar geworden ist. Meine anhaltenden Trauererfahrungen haben nach und nach einen Großteil meiner alten albtraumhaften Angst vor dem Tod aufgelöst.
Es gibt viele typische Formen von Ambivalenz. Tollwütige Sportfans sind keine Unbekannten. Sie führen oft eine Liebes-/Hass-Beziehung zu ihren Mannschaften und empfinden starke gegensätzliche Gefühle, wenn ihre Helden sich dumm anstellen. Ein aktueller Baseball-Superstar nennt seine Fans die »Yea-Boo-Vögel« weil sie so häufig zwischen Jubel und Hohn hin- und herwechseln.
Mut und Liebeskummer beinhalten jeweils weitere häufig auftretende Formen der Ambivalenz. Mut ist oft eine Handlung, die im Angesicht der Angst erfolgt. Liebeskummer ist die verwirrende Ambivalenz, die diejenigen empfinden, die sich erneut verlieben, nachdem ihnen das Herz gebrochen wurde. Die wunderbaren Gefühle der Hoffnung und Verbundenheit, die sich natürlicherweise bei einer neuen Liebe einstellen, kollidieren oft stark mit der Angst, dass die Liebe schließlich wie vorher endet. Diejenigen, die diese Ambivalenz nicht ertragen können, fliehen oft oder sabotieren unbewusst ihre neue Liebe, statt sich der Gefahr auszusetzen, erneut verletzt zu werden.
Ambivalenz tritt auch in der Erfahrung vieler Menschen auf, die gleichzeitig lachen und weinen. Weil es jedoch so inakzeptabel ist, ambivalente Gefühle zu haben, kommen die meisten von uns zu dem Schluss, dass wir nicht wissen, ob wir in solchen Momenten lachen oder weinen sollen. Im schlimmsten Fall verunglimpfen wir uns sogar dafür, dass wir eine so widersprüchliche Erfahrung machen.
Wenn wir dies tun, verkennen wir die großartige Ambivalenz im gleichzeitigen Erleben von Tränen und Lachen. Diese besondere Ambivalenz ist eine meiner liebsten emotionalen Erfahrungen. Sie entsteht oft spontan in mir, wenn meine Trauer beginnt, sich in Erleichterung zu verwandeln. Wenn sich mein Schmerz durch meine Tränen löst, werde ich vom Tod der Lebensentfremdung zu authentischer joie de vivre wiedergeboren.
Eines meiner bewegendsten Erlebnisse war, als ich trauerte, weil ich so viele Jahre damit verbracht hatte, dem oft wiederholten Urteil meiner Eltern zu glauben, ich sei schlecht. Plötzlich habe ich im tiefsten Inneren meines Wesens wirklich »verstanden«, dass sie gelogen hatten und dass ich im Grunde ein guter Mensch bin. Ich brüllte vor freudigem Gelächter und schwankte fast eine Stunde lang herrlich zwischen Lachen und Weinen.
Tränen selbst können ambivalent sein – gleichzeitige Äußerungen von Schmerz und Freude. Ich weine manchmal ambivalent, wenn ich endlich ein hart verdientes, langfristiges Ziel erreicht habe. In solchen Momenten sind meine Tränen sowohl der Ausdruck höchster Freude, dass mein Kampf vorbei ist, als auch der Befreiung von dem Schmerz, der mit einer intensiven, langwierigen Konzentration verbunden ist. Ich glaube, dass dies die Art von Tränen sind, die der große Sportler Michael Jordan im nationalen Fernsehen geweint hat, als er die Basketball-WM-Trophäe überreicht bekam, die ihm jahrelang vorenthalten worden war. Bemerkenswert ist auch, dass am Ende des NCAA-College-Basketball-Meisterschaftsspiels 1995 viele Mitglieder beider Teams weinten: UCLA vor Freude und Arkansas aus Trauer.
Ambivalenz und Spaltung
Widerspreche ich mir selbst?
Nun gut, ich widerspreche mir selbst,
Ich