»Mit dem, der so staatserhaltend aussieht?« fragte er. »Nun, was machten sie denn?«
»Sie küssten sich.«
»Mehr nicht?«
Kaflisch war enttäuscht. Andreas suchte sich zu entschuldigen.
»Na, hier im Hause –« meinte er.
»Unsinn. Diederich Klempner ist ja ihr Schoßhündchen. So’n Posten sollten Sie sich auch suchen, mein Lieber. Klempner ist ein Streber, aber ohne Lizzi wäre er nichts geworden.«
»Was ist er denn?« fragte Andreas.
»Das wissen Sie nicht? Dramatiker doch!«
»Klempner? Ich habe ihn nie auf dem Theaterzettel gesehen.«
»Die liebe Unschuld! Ist ja gar nicht nötig, er schreibt nie was, aber Dramatiker ist er doch.«
»Wieso?« fragte Andreas ziemlich kurz. Er fand den Ausdruck »Die liebe Unschuld« etwas zu herablassend. Kaflisch erläuterte:
»Wenn er was schreiben würde, dann würde es vielleicht ein Drama werden. Verstehnse mich?«
Sie betraten jetzt den ersten der drei großen Salons, in deren Tiefe man hineinsah. Er war blassgrün, der zweite purpurrot und der dritte bleu mourant1 und Rokoko. Eine erstaunliche Menschenmenge erschwerte das Weiterkommen, aber Kaflisch besaß das Talent, überall Platz zu finden. Andreas wunderte sich über die Menge von Händedrücken, die er rechts und links austeilte. Er schob die Leute mit einem freundschaftlichen Scherz beiseite und wand sich hindurch.
Man hörte schon von Weitem eine Gruppe von Herren streiten, die Börsenbesucher sein mussten, denn sie sprachen von einem Herrn Schmeerbauch, der die Gewohnheit hatte, jeden Tag mit einer neuen Hose zur Börse zu kommen. Heute hatte er eine schon bekannte angehabt, was allerlei Zweifel erregte. Man rief einen untersetzten, behäbigen Herrn an, der mit einer schlanken jungen Blondine vorüberging.
»Blosch! Wissen Sie was über Schmeerbauch?«
»Ist ja alles nicht wahr!« sagte Blosch phlegmatisch.
»Das mit der Hose?« fragte jemand.
»Ein Anfall von Melancholie«, versetzte Blosch. »Schmeerbauch hat eine unglückliche Liebe.«
Schmeerbauchs Kredit war wieder hergestellt.
»Der Glückliche!« seufzte ein schlanker junger Mann mit feinem schwarzen Schnurrbart und mandelförmigen dunklen Samtaugen, denen gewiss noch keine widerstanden hatte.
»Duschnitzki, wenn Sie renommieren, möchte man Sie prügeln, so dumm sehen Sie aus«, sagte ein anderer. Duschnitzki entgegnete sanft:
»Süß! Die liebe Unschuld!«
»Schon wieder die liebe Unschuld«, bemerkte Andreas für sich.
»Da ist ja Kaflisch!« riefen die anderen.
»Kaflisch, wissen Sie was von ›Rache!‹?«
»Durch!« antwortete der Journalist. »Türkheimer hat es durch seinen Schwiegersohn in spe beim Polizeipräsidenten durchgesetzt.«
»Ja, wenn man einen Schwiegersohn im Ministerium hat. Hochstetten ist doch Geheimer Rat?«
»Und nicht zu seinem Vergnügen. Vorläufig muss er Türkheimer einen Orden verschaffen. Man weiß nicht welchen, aber irgendeiner soll im Heiratskontrakt inbegriffen sein. Der Sonnenorden von Puerto Vergogna tut es nicht mehr. Und dann muss er ›Rache!‹ aufführen lassen.«
»Ganz und gar?«
»Mit lumpigen Änderungen«, erklärte Kaflisch. »Der Barrikadenkampf, die Ermordung des Verwaltungsrats durch die empörten Proletarier, die Auspeitschung der Bankiersfrau auf offener Straße, alles darf bleiben. Bloß das bisschen Kirchenschändung und die Benutzung der geweihten Gefäße zu unsauberen Zwecken muss weg.«
»Zustand!«
»Frechheit!«
Man rief durcheinander.
»Darf man nur uns auf der Bühne vergewaltigen und die Pfaffen nicht? Was haben die vor uns voraus?«
»Die Religion ist doch eine Sache für sich«, sagte die schlanke junge Frau, die mit Blosch gekommen war. Einer der Herren bemerkte:
»Die liebe Unschuld!«
Andreas wunderte sich nicht mehr, dass man ihn selbst mit dem Ausdruck anredete, da er auch einer Dame an den Kopf geworfen wurde. Übrigens kehrte das Wort immer wieder. Jeder, der nur zwei Sätze sprach, war es sich schuldig, es zu gebrauchen. Indes fühlte Andreas die Verpflichtung, für die junge Frau Partei zu nehmen. Auch fürchtete er albern dazustehen, wenn er noch länger schwieg.
»Die gnädige Frau hat recht«, sagte er mit Entschiedenheit. »Die Religion muss aus dem Spiel bleiben.«
»Kann sein«, meinte einer zögernd, aber Duschnitzki ergriff eifrig die umschlagende Stimmung.
»So ist es. Sie haben recht, gnädige Frau, und Sie, Herr, Herr –«
»Andreas Zumsee«, sagte Andreas.
»Schriftsteller«, setzte Kaflisch hinzu. Duschnitzki fuhr fort:
»Heutzutage, bei den Zuständen kann man alles verulken und mit Füßen treten, die Ehre des Bürgertums –«
»Und unser ruhmreiches Heer!« rief Süß.
»Die allerhöchsten Personen!« meinte ein anderer.
»Den Ruf einer Frau!« der nächste.
»Sogar die Börse«, schlug leise einer vor.
»Aber den lieben Gott!« sagte Duschnitzki nachdrücklich. »Das geht nicht!«
»Das muss die Polizei verbieten!« schrie Süß. »Es erregt Ärgernis!«
»Und es ist geschmacklos«, setzte Duschnitzki geringschätzig hinzu.
»Stimmt!« versetzte Kaflisch unter allgemeinem Beifall. »Wir haben das überwunden! Man muss schon ’n bisschen veralterter Würdengreis sein wie der große Mann da hinten.«
Die Gesellschaft begann zu lachen. Andreas, der den Blicken der anderen folgte, bemerkte am Eingang zum zweiten Salon einen langen Greis mit kleinem, lächelnden Vogelkopf. Ein wenig Flaum tanzte auf seinem kahlen Schädel. Er redete emphatisch auf einen großen Kreis von Damen und Herren ein, aus dem er hoch aufragte. Andreas erhaschte abgerissene Worte: »Dunkle Gestalten