20. Von der Natur der Gastrimargie, die im Gleichnis mit dem Adler verglichen wird.
Ein Bild dieser Leidenschaft, von welcher nothwendig selbst der noch so geistige und hochstehende Mönch bedrängt wird, zeichnet man treffend genug durch die Vergleichung mit dem Adler. Obwohl dieser durch den höchsten Flug über die Höhe der Wolken erhoben wird und sich verbirgt vor den Augen aller Sterblichen, ja vor dem Angesichte der ganzen Erde, so wird er doch durch den Drang des Magens genöthigt, wieder in die Tiefen der Thäler sich zu senken und zur Erde herabzusteigen, ja sich mit Tod und Cadaver abzugeben. An dieser Andeutung bewährt sich auf’s Klarste, daß der Geist der Gastrimargie durchaus nicht wie die übrigen Laster ausgemerzt und nicht in gleicher Weise ausgelöscht werden kann, sondern daß nur seine Anreizungen und überflüssigen Ansprüche durch die Kraft der Seele zurückgedrängt und im Zaume gehalten werden können.
21. Wie die Beharrlichkeit der Gastrimargie gegen die Philosophen dargelegt worden.
Die Natur dieses Lasters hat Einer der Greise, der mit Philosophen disputirte, die da wegen seiner christlichen Einfalt glaubten, sie dürften ihn wie einen bäurischen Menschen hetzen, schön ausgedrückt, indem er sie unter folgendem Bilde in einer Frage zeichnete: „Mein Vater,“ sagte er, „hat mich in Verpflichtungen gegen viele Gläubiger zurückgelassen; während ich die andern ganz bezahlte und dadurch von aller Belästigung ihres Anforderns frei wurde, kann ich einem durch tägliches Zahlen nicht genug thun.“ Als nun jene die Bedeutung der vorgelegten Frage nicht kannten und ihre Lösung mit Bitten verlangten, sprach er: „In viele Laster war ich von Natur aus verwickelt; aber da mir Gott das Verlangen nach Freiheit eingab, that ich diesen allen, wie den lästigsten Gläubigern Genüge, indem ich dieser Welt entsagte und alles vom Vater überkommene Vermögen gleichfalls von mir warf, und so wurde ich von ihnen gänzlich frei. Die Reizungen der Gastrimargie aber vermochte ich durchaus nicht wegzubringen. Denn obwohl ich sie auf ein geringes Maß und eine ganz unbedeutende Menge eingeschränkt habe, so entgehe ich doch nicht der Gewalt des täglichen Triebes, sondern ich muß durch ihre ewigen Verhandlungen bedrängt werden und eine endlose Zahlung in beständiger Leistung gewähren und ihren Anforderungen einen niemals vollzähligen Tribut bringen.“ Jetzt erklärten Jene, daß dieser Greis, den sie vorher als unwissend und bäurisch verachtet hatten, den vorzüglichsten Theil der Philosophie, d. i. die Ethik, trefflich erfaßt habe, und wunderten sich sehr, wie er von Natur aus, ohne daß es ihm eine weltliche Bildung beigebracht habe, das hätte erreichen können, während sie mit vieler Mühe und langem Lernen nicht so weit hätten kommen können. Das mag nun im Besondern über die Gastrimargie hinreichen, und wir wollen nun zurückkehren zu der Auseinandersetzung, die wir über die allgemeine Kenntniß der Laster begonnen haben.
22. Warum Gott dem Abraham vorausgesagt habe, daß das Volk Israel zehn Stämme besiegen müsse.
Als Gott zu Abraham über die Zukunft sprach, was ihr gar nicht nachgesehen habt, da zählte er, wie wir lesen, nicht sieben Stämme auf, sondern zehn, deren Land er seinen Samen zu geben verspricht. Diese Zahl wird, wenn wir den Götzendienst und die Gotteslästerung hinzurechnen, augenscheinlich ausgefüllt, und diesen ist vor der Erkenntniß Gottes und der Gnade der Taufe sowohl die gottlose Menge der Heiden als die gotteslästerliche der Juden unterworfen, solange sie in dem geistigen Ägypten weilen. Wenn aber Einer durch Gottes Gnade entsagend und von da ausziehend auch die Gastrimargie besiegt und zur geistigen Wüste kommt, so hat er von der Anfechtung dreier Stämme befreit, nur noch gegen die sieben, welche von Moses aufgezählt werden, den Kampf aufzunehmen.
23. In wie fern es uns nützlich sei, das Gebiet der Sünden zu besitzen.
Daß uns aber befohlen wird, das Gebiet dieser verderblichen Völker zu unserm Heile zu besitzen, ist so zu verstehen: Es hat jedes Laster in unserm Herzen eine eigene Stätte, die es sich wahrt und so Israel aus unserer Seelenwohnung hinausdrängt, d. i. die Betrachtung der höchsten und heiligen Dinge, denen zu widerstreiten es nicht abläßt. Denn es können nicht die Tugenden mit den Sünden zugleich wohnen. Oder was hat die Gerechtigkeit mit der Bosheit zu schaffen, oder welche Gemeinschaft ist dem Lichte mit der Finsterniß? Wenn aber die Laster von dem Volke Israel, d. i. von den mit ihnen streitenden Tugenden überwunden sind. So wird den Platz, den in unserm Herzen der Geist der Begierlichkeit oder der Unzucht für sich einnahm, in Zukunft die Keuschheit behaupten; den die Heftigkeit weggenommen hatte, wird die Geduld beanspruchen; den die Traurigkeit, welche den Tod wirkt, einnahm, wird die heilsame und freudevolle Traurigkeit besehen; den der Hochmuth niederstampfte, wird die Demuth ehren; und so werden nach Austreibung der einzelnen Sünden die entgegengesetzten Tugenden deren Plätze, d. i. deren Neigungen, inne haben. Diese werden nicht mit Unrecht Söhne Israels, d. i. gottschauende Seelen genannt; wenn sie nun alle Leidenschaften der Seele ausgetrieben haben, so muß man nicht glauben, daß sie in fremden Besitz eingedrungen seien, sondern daß sie den eigenen wieder errungen haben.
24. Daß die Ländereien, aus welchen die Völker der Chananäer vertrieben wurden, für die Nachkommen des Sem bestimmt waren.
Wie eine alte Überlieferung lehrt, hatten die Söhne Sems ebendiese Ländereien der Chananäer, in welche die Söhne Israels geführt wurden, einst bei der Theilung des Erdkreises als ihren Antheil gezogen, und erst nachher nahmen durch Gewalt und Macht die Nachkommen Chams in ungerechtem Einfall davon Besitz. Darin bewährt sich nun auch die Gerechtigkeit des Urtheils Gottes, der jene aus dem fremden