Wir sind die Letzten. Marco und Hector sind vor etwa einer Stunde gegangen, weil sie morgen Vormittag gegen elf schon wieder hier sein und alles fürs Mittagessen vorbereiten müssen. Peggy ist zusammen mit ihrem Ehemann nach Hause, zuvor hatte sie aber die Küche saubergemacht und alles weggeräumt. Ich habe beschlossen, noch zu bleiben und weiterzuhelfen, weil ich morgen Früh ausschlafen kann, ehe ich mit zig Kleidern durch die Stadt toben muss.
»Ich bin fast durch, und du musst mich auch nicht nach Hause bringen«, widerspreche ich, gehe zu einem anderen Tisch, wische erst die Platte, dann die daran platzierten Stühle ab, und stelle Salz- und Pfefferstreuer sowie die Servietten ordentlich in die Mitte.
»Und ich kann das hier fertigmachen«, wendet er ein und versucht, mir den Lappen zu entreißen, doch ich befreie ihn energisch aus seinem Griff.
»Genau wie ich.« Ich bedenke ihn mit einem finsteren Blick, ehe ich um ihn herum zu dem nächsten Sitzplatz gehe.
»Ich versuche gerade, nett zu dir zu sein.«
»Nett? Du bist nie nett zu mir. Kleiner Tipp, wenn du wirklich versuchen willst, nett zu sein, könntest du dich zum Beispiel einfach bei mir bedanken.«
»Ich habe dich nicht darum gebeten, herzukommen.«
Ernsthaft?
Ich frage mich, wie viele Jahre Gefängnis drohen, wenn man jemandem um die Ecke bringt und man dessen Tod zuvor minutiös geplant hat. Genug, um dieser Verlockung zu widerstehen?
»Du hast recht. Du hast nicht um meine Hilfe gebeten. Aber ich mag diesen Ort und ich liebe deine Eltern.« Mein Blick bohrt sich in seinen und ich lege den Kopf schief. »Warum bist du die ganze Zeit immer so mies drauf?«
»Bin ich gar nicht.« Er verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich bemühe mich, nicht zu sehr darauf zu achten, wie sich seine Muskeln bei der Bewegung anspannen und wie sein Oberteil dabei seine definierte Brust und seinen durchtrainierten Bauch betont.
Verärgert über die Tatsache, dass ich ihn attraktiv finde, obwohl er so ein Idiot ist, schüttle ich den Kopf. »Und ob du das bist.«
Seine Miene verfinstert sich. »Ich bin nicht mies drauf.«
Die Augen verdrehend, lenke ich meine Aufmerksamkeit auf einen der restlichen Tische. »Na klar.« Ich stoße ein sarkastisches Lachen aus. »Gerade jetzt ziehst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«
»Ich ziehe ganz bestimmt kein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter«, protestiert er.
»Wenn du meinst.«
»Meine ich.«
»Was auch immer. Diese Unterhaltung ist komplett sinnlos«, erkläre ich und wende den Blick ab. »Hast du nicht noch etwas zu tun?«
Als er nicht verschwindet, sehe ich wieder zu ihm auf. In dem Moment, in dem sich unsere Blicke treffen, scheint sich die Luft um uns zu elektrisieren. Der Ausdruck in seinen Augen sorgt dafür, dass sich meine Bauchmuskeln zusammenziehen.
Keine Ahnung, wie lange wir uns auf diese Weise anstarren, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, ehe er sich räuspert und abwendet. »Ich kümmere mich um den Rest.«
»Okay.« Ihm nachsehend, frage ich mich, was zur Hölle das gerade zwischen uns gewesen ist. Als mir eine Antwort versagt bleibt, mache ich auch die restlichen Tische sauber und wische noch den Boden. Gegen dreiundzwanzig Uhr gehe ich ins Büro. Nur wenige Sekunden nach mir betritt auch Antonio den Raum. Ich verstaue das Oberteil, das er mir gegeben hat, sorgfältig gefaltet in meiner Tasche. Dann ziehe ich meinen Mantel an, setze meine Mütze auf und schlüpfe in meine Handschuhe. Als ich mich wieder umdrehe, entdecke ich ihn in einer schwarze Daunenjacke und mit einer Beanie-Mütze auf dem Kopf. Ich will nicht denken, dass er gut damit aussieht, kann mich diesem Eindruck aber nicht erwehren. Sie lässt seine Wangenknochen noch schärfer geschnitten wirken, seine Augen noch dunkler und ihn insgesamt irgendwie mysteriös erscheinen. Diese dämlichen Gedanken beiseiteschiebend, lasse ich ihn im Büro zurück und mache mich auf den Weg nach draußen.
Er folgt mir.
»Hab noch einen schönen Abend«, murmle ich, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Erst als er seine Hand um mein Handgelenk legt, genau auf die Stelle zwischen Handschuh und Mantelärmel, bleibe ich stehen. Seine Berührung durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag und versetzt jede Zelle meines Körpers in Aufruhr, was mich innerlich völlig aus dem Gleichgewicht bringt.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagt er.
Ich drehe mich zu ihm um, um ihn anzusehen. »Danke, aber ich finde den Weg selbst.« Ich versuche, mich aus seinem Griff zu lösen, doch seine Finger drücken sich nur noch fester in meine Haut. Nicht schmerzhaft, aber unmissverständlich.
»Ich bringe dich«, wiederholt er, dieses Mal jedoch bestimmter.
Ich spare mir ein frustriertes Seufzen. Wäre er nicht so ein Idiot, würde ich fast denken, seine Sorge, mich sicher nach Hause zu bringen, wäre süß. Leider hat er mir einmal zu oft bewiesen, wie gewaltig die Kluft zwischen der Realität und meinem Wunschdenken ist.
»Mach dir keinen Kopf, es sind keine zwei Blocks, das schaffe ich schon.« Ein weiteres Mal versuche ich, ihm mein Handgelenk zu entziehen, doch er lässt nicht locker.
Schweigend öffnet er die Tür, schiebt mich nach draußen und schließt hinter uns ab. Nachdem er mich etwas beiseitegeschoben hat, betätigt er mit seinem Schlüssel die Vorrichtung für die metallenen Außenjalousien, die mit einem lauten Rattern hinunterfahren. »So, und jetzt bringe ich dich zu deiner Wohnung«, verkündet er, nachdem er alles dicht gemacht hat.
Gerade so widerstehe ich dem Drang, ihm gegen sein Schienbein zu treten. Endlich lässt er mein Handgelenk los, und ich drehe mich zähneknirschend von ihm weg, ehe ich losmarschiere. Zwar versuche ich, es nicht so aussehen zu lassen, als würde ich wütend nach Hause stapfen, doch genau das tue ich. Als wir schließlich bei mir ankommen, eile ich die Stufen der Eingangstreppe hinauf und öffne die Haustür.
»Danke für all deine Hilfe heute Abend, Libby.«
Völlig verdutzt drehe ich mich zu ihm um, wohlwissend, dass mir der Mund sperrangelweit offensteht.
»Ich weiß es sehr zu schätzen, genau wie meine Mom und mein Dad, und du hast heute Abend echt einen tollen Job gemacht.«
»Bist du ... Bist du etwa nett zu mir?« Verblüfft deute ich mit dem Finger auf mich.
Es wirkt, als zuckten seine Mundwinkel, aber dieser Einbildung gebe ich mich nicht hin. Reines Wunschdenken, genauso wenig real, wie dass er sich gerade bei mir bedankt hat.
»Geh rein.« Er deutet mit einem Nicken in Richtung der Eingangstür. »Wenn du oben angekommen bist, lass das Licht ein paar Mal aufflackern, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
»Das Licht flackern lassen?«, wiederhole ich und spüre, wie sich mit einem Mal ein warmes Gefühl in meinem Bauch ausbreitet.
»Ja.«
»Ist schon gut. Du kannst gehen.«
»Lib, geh rein und lass das Licht ein paar Mal aufleuchten«, sagt er und klingt nun wieder wie der olle Depp, der er in Wirklichkeit ist.
Ich seufze. »Das hat ja nicht lang angehalten«, murmle ich in meinen Schal, mache auf dem Absatz kehrt und gehe hinein.
Ich schwöre, ihn lachen zu hören, als ich die Tür hinter mir schließe. In der Annahme, dass es ihm nicht wehtun wird, ein paar Minuten zu warten, bleibe ich bei den Briefkästen stehen und hole meine Post heraus. Ich stecke sie mir unter den Arm, ehe ich in den zweiten Stock hinaufeile und die Wohnungstür aufschließe.
Ohne meine Beweggründe zu verstehen, lasse ich das Licht aus und gehe zum Fenster, um hinauszusehen. Ob es Antonio wirklich wichtig ist, dass ich heil in meiner Wohnung ankomme? Wichtig genug, um in der Kälte auszuharren, bis ich mit den verdammten Lichtern flackere?
Als