Vor der Begegnung mit dem Spiegel war unser Tausendfuß im Flow. Der Blick in den Spiegel bescherte ihm Stress mit der Folge einer reflexiven Blockierung. Der unreflektiert als Ganzheit funktionierende Tausendfuß steht für das, was wir als Selbst bezeichnen wollen. Der Spiegel hingegen symbolisiert das bewusste Ich.
Chancen und Risiken des Bewusstseins
Flow ist ein Zustand, in dem wir uns als Ganzheit erfahren, die nur von einem ganzheitlichen Selbst bestimmt wird. Es gibt nur das Selbst, und sonst nichts. Wenn sich aus diesem Selbst eine zweite Ebene, eine Bewusstseinsebene heraushebt, die eine Selbst-Bespiegelung ermöglicht, entstehen neue Chancen und neue Risiken: Chancen im Sinne neuer Möglichkeiten der Kreativität, des Lernens, aber auch der Selbsterfahrung und des Selbstgenusses; Risiken in Form möglicher Teufelskreise, die sich zu vielfältigen Formen psychischer Störungen aufschaukeln können.
Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund diese beiden zentralen Begriffe Ich und Selbst noch einmal definieren:
Ich = wertendes und intendierendes Bewusstsein (d.h. ein Bewusstsein, das Ist/Soll-Vergleiche durchführt und über die Willenskraft Veränderungen des Ist anstrebt).
Selbst = Gehirn und Körper mit allen Potenzialen, die sich entweder unbewusst entfalten oder von einem nicht wertenden, nicht intendierenden Bewusstsein begleitet werden (ein Bewusstsein, das einfach nur da ist und das sich entfaltende Sein annimmt, wie es ist).
Wenn wir diese Begriffe im hier definierten Sinn verwenden, werden sie kursiv gesetzt.
Reflexive Blockierungen im Alltag
Erinnert Sie das Tausendfuß-Syndrom an Situationen aus Ihrem Alltag? Als ich vor einigen Jahren in einer fremden Stadt dringend Geld benötigte, versuchte ich, mich auf dem Weg zum Bankautomaten an meine Geheimnummer zu erinnern. Entsetzt musste ich feststellen, dass sie mir nicht mehr als explizites Wissen zur Verfügung stand. Ich geriet in Stress und war nicht dazu in der Lage, dem Automaten auch nur einen verdammten Cent zu entlocken. Zu Hause hatte ich die Nummer in den Monaten zuvor immer mehr »automatisiert« eingegeben, ohne bewusst darüber nachzudenken. Es gibt spezielle und wirksame Techniken, um solche Fallen zu vermeiden beziehungsweise wieder aus ihnen herauszukommen, wie zum Beispiel die paradoxe Intention, auf die wir später genauer eingehen (siehe Kapitel 2.3).
1.3 Das Ich
Vernunftauge und pragmatische Einstellung
Damit unser Ich seine Bewertungs- und Veränderungsaufgaben erfüllen kann, braucht es zwei Kontrollorgane – wir wollen sie hier als Vernunftauge und als Synergieohr bezeichnen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie Sie in der Tanzschule das Tanzen gelernt haben oder im Sportunterricht das Kugelstoßen. Beim Erlernen so komplexer Bewegungsmuster gib es zwei grundlegende innere Einstellungen: In der pragmatischen Einstellung konzentriert man sich auf Korrekturen an den Details der Bewegung, die beispielsweise die Fußstellung oder die Körperhaltung betreffen. Hierbei helfen auch Korrekturen von außen, etwa durch Hinweise des Lehrers/Trainers oder auch durch den Blick in einen Spiegel. Diese auf Veränderungen am Detail gerichtete Perspektive wird uns vom Vernunftauge ermöglicht.
Teil und Ganzes
Da das Fenster unseres Bewusstseins aber so eng ist, können wir immer nur ein oder wenige Details gleichzeitig in den Blick unseres Vernunftauges nehmen. Auf diese Weise lässt sich zwar absichern, dass zum Beispiel die Stellung des rechten Fußes korrekt ist. Es lässt sich aber nicht erfassen, ob die Koordination der komplexen Gesamtbewegung des Körpers optimal ist. Diese ganzheitsbezogene Information liefert uns nun das Synergieohr in Form von Stimmigkeits- oder Unstimmigkeitsempfindungen, die wir als Synergiegefühle bezeichnen. Wir haben ein sicheres Gefühl für die Harmonie unserer Gesamtbewegung beim Tanzen oder beim Kugelstoßen.
Synergieohr und ästhetische Einstellung
Bei sehr komplexen Bewegungen, die dem perfekten Gelingen nahe sind, können sich die vom Synergieohr ausgehenden Synergiegefühle zu einer intensiven Funktionslust steigern. Sie weckt ein starkes Bedürfnis danach, diese Bewegungen immer und immer wieder auszuführen und womöglich noch auszubauen. Das ist ja der eigentliche Grund, warum wir tanzen oder Sport treiben. Und: Diese vom Synergieohr ausgehenden Stimmigkeitsgefühle sind natürlich auch die Grundlage der im Zusammenhang mit dem Flow-Zustand erwähnten Harmoniegefühle. Diese Tätigkeitseinstellung, die auf das Erspüren der Harmonie des Ganzen gerichtet ist, nennen wir ästhetische Einstellung.
Ein zweistufiger Prozess: Wir erarbeiten uns unter Führung des Vernunftauges in pragmatischer Einstellung die Teilbewegungen und fügen diese dann unter Führung des Synergieohres in ästhetischer Einstellung zu einem harmonischen Ganzen zusammen.
Beispiele
Diese Form der Zusammenarbeit gibt es in ähnlicher Form in der Wahrnehmung und im Denken: Ein Komponist »bastelt« unter Verwendung seines theoretischen Wissens mit dem Vernunftauge bestimmte Akkorde. Zwischendurch aber wechselt er immer wieder einmal in eine ästhetische Einstellung, um mit dem Synergieohr zu erspüren, ob sie sich zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Ein Physiker rechnet mit dem Vernunftauge an bestimmten Teilproblemen herum und befragt zwischendurch sein Synergieohr, ob ihn die Teilschritte hin zu einer stimmigeren, »schöneren« Gesamttheorie führen (er befragt seine »Intuition«). Überall, wo hochkomplexe Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen, spielen diese integrierend-ganzheitsbezogenen Intuitionen eine zentrale Rolle, insbesondere bei Führungsentscheidungen in Wirtschaft oder Politik.
Übrigens hat auch jede einfache Alltagstätigkeit vom Gehen bis zum Fensterputzen eine ästhetische Seite. Wenn wir uns nicht durch alle möglichen »Zwänge« unter Spannung setzen (lassen), uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren und wirklich achtsam für unsere Empfindungen sind, lässt sich auch solchem Tun Genuss entlocken. In der Folge kann man auch dabei einfache Flow-Erfahrungen machen.
Fazit
So leistet also das Vernunftauge die punktuelle Kontrolle/Bewertung der Teile und das Synergieohr die globale Kontrolle/Bewertung des Ganzen.
1.4 Das Selbst
1.4.1 Natürliche Potenziale: Psychoneurale Selbstordnungskräfte
Unflexible Computer
Wenn ich Sie jetzt fragen würde »Wie arbeitet das Gehirn?«, würden wahrscheinlich einige von Ihnen antworten: Na, vielleicht so ähnlich wie ein Computer. Ich muss Sie enttäuschen – kaum eine Antwort könnte falscher sein. Computer müssen gebaut und programmiert werden. Sie folgen starren Regeln, machen in standardisierter Form immer das Gleiche. Wenn sie doch einmal etwas tun, was nicht vorbestimmt ist, dann sind sie meist kaputt.
Kreatives Gehirn
Das Gehirn ist das genaue Gegenteil davon. Hier entsteht ständig Neues: Jede Bewegung, jeder Gedanke und jede Wahrnehmung, die Ihnen bewusst wird, hat eine völlig neue Struktur, die es so vorher noch nie gegeben hat und auch nie wieder geben wird. Das Gehirn ist aus sich heraus kreativ. Es nutzt