Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman. Peik Volmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peik Volmer
Издательство: Bookwire
Серия: Dr. Sonntag
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740972318
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Lukas auf und rannte, die Wohnzimmertür hinter sich zuschlagend, die Treppe zu seinem Dachbodenzimmer hinauf. Durch den Knall wachte die Kleine auf und plärrte.

      »Ich denke, mit Max wird das keine Probleme geben«, sagte Corinna zu Egidius. »Ich hoffe, dass er Lukas beruhigen kann, wenn er nach Hause kommt!«

      *

      »Jetzt hast du deine Schwiegermutter am Hals, meine liebe Corinna!«, grinste Theres spitzbübisch. »Ich weiß gar nicht, warum man mich in diesen Stuhl gesetzt hat. Einige Schritte kann ich schon laufen, ohne mich auf meinen Allerwertesten zu setzen! Hilfst du mir bitte, mich einigermaßen würdevoll zu erheben? Ich würde euer Haus gern auf meinen zwei Beinen betreten!«

      Der Krankentransportwagen wendete und schickte sich an, über den unbefestigten Weg zur Straße zurückzufahren.

      »Halt, Halt!, meine Handtasche!«, rief Theres.

      Der Fahrer trat auf die Bremse, Corinna öffnete die Tür und schnappte sich die elegante Tasche aus glänzendem Leder. Sie hakte Theres, die im Eingang stand, unter.

      »Deine Sachen vom Rupertistift kommen leider erst morgen, Theres, schneller haben wir das nicht hinbekommen. Wenn du etwas benötigst, sag bitte Bescheid.«

      Theres winkte ab.

      »Das ist alles kein Problem. Viel wichtiger ist es, dir danke zu sagen!«

      »Wofür das denn?«

      »Dass du zugestimmt hast, dass ich euch hier zur Last fallen darf.«

      Sie umarmte ihre Schwiegertochter und drückte sie an sich. Corinna erwiderte die Umarmung.

      »Pass mal auf, Theres«, erwiderte sie. »Du bist uns noch nie zur Last gefallen. Und ich habe nicht die leiseste Befürchtung, dass du es je tun könntest. Im Gegenteil. Dein ältester Enkel, dein Sohn und sogar deine Schwiegertochter freuen sich, dass du bei ihnen bist. Deine Enkelin kann sich noch nicht darüber freuen, aber wir werden etliche Fotos machen, auf denen du sie auf dem Arm hältst. – So, dein Zimmer kennst du ja!«

      Ein neues Hobby

      Der Platz im Restaurant, den Esfandar für Maria reserviert hatte, war wirklich ideal. Von ihrem Platz aus konnte sie fast den gesamten Raum überblicken, ohne selbst zu sehr ins Visier der Beobachter zu geraten. Jeden, der hineinkam, konnte sie beobachten.

      Sie war es gewohnt, Menschen zu beobachten. Das hatte sie in ihrer Ausbildung gelernt. ›Krankenbeobachtung‹, hieß das Fach. Es war eine Art Spiel, wenn sie mit ihren Kolleginnen zusammen ausging. An der Art, wie jemand aussah, wie er ging, wie er den Arm hielt, sein Gesicht verzog, ordneten Sie diesen Menschen bestimmte Erkrankungen zu.

      Hier allerdings ging es nicht um pathologische Auffälligkeiten. Sie erforschte sehr genau, wie man sich in der gehobenen Gesellschaft kleidete, frisierte. Wie man lachend den Kopf in den Nacken warf, dass die Kreolen lustig hin- und herschwangen. Wie man sich bei dem begleitenden Herren unterhakte, um leichtfüßig und elegant über das Parkett zu schweben. Ungeahnte Düfte und Aromen umwehten sie und flüsterten Maria ihre Geschichte von Klasse und Reichtum in die Nase.

      Ja, an diesem Spiel hätte sie ohne Weiteres teilnehmen können. Sie hätte jeden täuschen können. Die Rolle der kleinen Krankenschwester aus einer kleinen oberbayrischen Klinik abstreifen können wie einen alten Mantel. Was allerdings nicht funktioniert hätte, war die Konversation, deren Zeuge sie gezwungenermaßen wurde. Sie kannte nicht den Unterschied der Preise für Schmuck bei Bergdorf und Tiffany. Sie hatte keine Erfahrung mit den Zimmern im Adlon oder dem Waldorf Astoria. In Cannes und Nizza war sie noch nie gewesen. Sie besaß keine Yacht und keinen Pool im Garten der von einem Stararchitekten designten Villa.

      Jedoch hatte sich etwas ereignet, durch das sie sich vom Kreis der gewöhnlichen High Society deutlich abhob. Dies Ereignis hatte schwarze, straff nach hinten gekämmte Locken, die am Hinterkopf zu so einem kleinen Knauf zusammengedreht waren, wie man ihn immer wieder bei jungen Männern sah. Es hatte warme, abgründige braune Augen. Es hatte perfekt geformte, weiche Lippen, die, wenn sie sich zu einem Lächeln verzogen, den Blick auf ein sensationell weißes Gebiss freigaben.

      Und sie wäre blind jede Wette eingegangen. Jede von diesen vornehmen Damen mit ihren Pools und Segelbooten und Villen hätte einiges dafür gegeben, Esfandar aufgefallen zu sein. Sie sah genau, wie dem athletischen Jungen, der sich mit ungeheurer Geschmeidigkeit bewegte, alle Blicke folgten. Er aber war nur für sie da. Für sie allein. Sie war seine Herzdame. Seine Königin.

      Und sie genoss jede Sekunde. Stolz, hoch erhobenen Hauptes, hatte sie sich bei ihm eingehängt, warf den Kopf zurück und lachte, wie sie es zuvor bei den feinen Damen beobachtet hatte.

      Er hatte sie zur Kabine begleiten wollen. Ein kurzer Spaziergang an Deck. Die Sonne war lange untergegangen. Die Nacht war lau und sternenklar. Die Sichel des Mondes tat ihr Bestes, um die Szene zu beleuchten. Vergeblich. Aber vielleicht war das auch besser so. Immerhin waren auch Kinder an Bord. Und man konnte es schwerlich als jugendfrei bezeichnen, dass Esfandar seine Begleiterin zwischen die Rettungsboote zog. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. Der Geschmack seiner Zunge in ihrem Mund … seine zärtlichen Liebkosungen … seine Lippen, die von ihrem Hals zu ihrer Brust wanderten. Ihr Körper bebte dem seinen entgegen. Wollte er das wirklich? Hier, im Stehen – in aller Öffentlichkeit? Er machte sich an ihrer Bekleidung zu schaffen. O mein Gott! Er wollte! Sie spürte seine wortlose Forderung, seine Gier. Sie gab nach. Zum ersten Mal erlebte sie das, wovon Tassilo ihr nur eine Ahnung hatte vermitteln können. Sie erlebte es nicht nur einmal. Es war einfach unbeschreiblich. Der Himmel auf Erden.

      *

      »Ich habe leider keine Zeit für ein gemütliches Frühstück«, bedauerte Tassilo am nächsten Morgen. Maria hatte gar nicht gehört, dass und wie er nachts in die Kabine geschlichen war.

      »Eine Frühbesprechung?«, mutmaßte sie.

      »Ja, und außerdem wollen der Regisseur und der Kameramann das Licht am Morgen für vier Szenen ausnutzen!«

      »Viel Spaß und viel Erfolg!«, rief sie heiter. Fast etwas zu heiter. Aber Tassilo fiel das nicht auf.

      Was hätten ihre Eltern gesagt? Ihre Freundinnen? Die waren doch ebenso spießig und verkniffen wie sie selbst! Sie war ein böses Mädchen gewesen! Ein sehr, sehr böses Mädchen! Bei der Beichte würden dem Ettenhuber die Ohren abfallen!

      Sie lachte laut auf.

      Dann errötete sie. Warum hatte ihr eigentlich niemand gesagt, wie schön das war! Und sicher nicht zweckgebunden, zum Zeugen von Nachkommenschaft! Zur Befriedigung der Bedürfnisse des Ehemannes! Esfandar! Eine kribbelnde, prickelnde, heiße Woge durchflutete ihren Körper beim bloßen Gedanken an … also wirklich! An Deck! Im Stehen! Sie lachte wieder. Was man so Stehen nennt! Fast hätte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können, so weich wurden ihre Knie, so zittrig.

      Ob sie ihn beim Frühstück sehen würde? Und ob sich dieses Jahrhundertereignis von gestern Nacht wiederholen ließe?

      Sie betrat das kleine Bad und betrachtete sich im Spiegel.

      »Guten Morgen, du Sünderin!«, zwinkerte sie sich vergnügt zu. »Ich glaube, ich habe ein neues Hobby!«

      *

      »Also, an mir lag es nicht!«, bemerkte Dagmar spitz. Sie gab sich Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen

      »Ich lag, wie verabredet, ab Mitternacht in meiner Kabine. Allein, übrigens. Wie bestellt und nicht abgeholt!«

      »Komm, sei nicht sauer! Gestern dauerte alles extra lang und ich war noch zum klar Schiff machen eingeteilt! Und hinterher haben die Jungs mich bequatscht, noch einen Absacker zu trinken. Und außerdem: Du bist schwanger! Geht das denn überhaupt im Augenblick? Nachher passiert dem Kind was, wenn ich dich kräftig …«

      »Danke, ich habe es begriffen. Nein, dem Kind passiert nichts. Weißt du: In einem bist du deinem Bruder sehr ähnlich! Um Ausreden seid ihr beiden nie verlegen!«

      Er kicherte verlegen. »Das hat Mama auch immer gesagt!«

      »Wusstest