III. Kontext: Tod, Ruhm und Unsterblichkeit
Schaut man Brochs Schriften zur Ästhetik und Philosophie durch, stößt man oft auf Stellen, die seine Beschäftigung mit den Themen Tod, Ruhm und Unsterblichkeit belegen. „Jede Philosophie zielt auf den Unsterblichkeitsgedanken“ (KW 9/1, 353), heißt es da. Oder: „Die Geschichte ist noch nicht die absolute Unsterblichkeit“ (KW 9/2, 155). Broch hielt viel von Sigmund Freuds Psychoanalyse, doch war er kein unkritischer Anhänger der Freudschen Theorien und in der Auffassung vom Tod wich er von ihnen ab. Das hing mit einem unterschiedlichen Kulturverständnis zusammen. Kulturelle Aktivität ist bei Broch nicht primär als Triebsublimierung, sondern als etwas anthropologisch Grundsätzlicheres zu verstehen: „Denn die Natur des Menschen ist seine Kultur“, schreibt Broch (KW 9/2, 62).29 Die Absolutheit der Natur sei dem Menschen durch das Bewusstsein seiner Endlichkeit, seines Todes, präsent (KW 9/2, 125). Kultur sei zu verstehen als „die Absolutheit des Lebenswertes, die der Absolutheit des Todes entgegengesetzt“ werde (KW 9/2, 126), d.h. die Auflehnung des Lebens gegen den Tod. „Das Antlitz des Todes ist der große Erwecker!“ (KW 9/2, 124) hielt Broch fest.30 Die „religiösen Wertsysteme“ (KW 9/2, 130) der Menschheitskultur hätten „die absolute Befreiung vom Tode“ (KW 9/2, 125–130) angestrebt. Das „christlich-platonische Weltbild des Mittelalters“ habe in diesem Sinne ein „unendliches Wertziel“ (KW 9/2, 145) gekannt. Der europäischen Moderne sei jedoch die Orientierung auf ein „unendliches Wertziel“ abhanden gekommen, da jedes Partialsystem seine profanen Wertziele verabsolutiere.
In einem Selbstkommentar zum Tod des Vergil betonte Broch, dass „Unendlichkeits- und Todeserkenntnis“ im „Mittelpunkt seines Werkes“ stehen (KW 4, 494).31 In diesem Roman wird „Dichtung“ mit „Todeserkenntnis“ (KW 4, 77) bzw. „Erkenntnis des Todes“ (KW 4, 301) gleichgesetzt. Der Rat, den die Stimme des Sklaven Vergil erteilt, lautet: „[B]egreife im Leben den Tod, auf daß er dein Leben erhelle“ (KW 4, 251). Dem Roman liegt eine ethisch orientierte Ästhetik zugrunde, die auf die Ablehnung jener Kunst hinausläuft, die die Forderung nach „Todeserkenntnis“ nicht erfüllt. Zu den falschen Zielen der Kunst gehöre der „Ruhm“ als „irdische Unsterblichkeit“ (KW 4, 232).32 Die selbstkritischen Äußerungen Vergils über die Aeneis haben damit zu tun, dass er Konzessionen an den Ruhm des Imperiums gemacht habe. Die untergehende Kulturepoche des Augustus habe er fälschlich als zukunftsträchtig, ja als Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters mit dem Kaiser als Heilsbringer gelobt. Vergils Abneigung gegen sein Hauptwerk geht so weit, dass er dessen Vernichtung erwägt, es „verbrannt“ sehen möchte (KW 4, 167).33 Die Freunde Vergils und vor allem Augustus sind in Vorstellungen von Ruhm als irdischer Unsterblichkeit befangen. „Bloß die Lüge ist Ruhm, nicht die Erkenntnis!“ (KW 4, 15) hält Vergil in strenger Entgegensetzung fest. Unerträglich wird dem Autor das Gespräch mit Augustus, der die Aeneis zur Glorifikation seiner Amtszeit gerettet und veröffentlicht sehen will. Da heißt es: „Der Cäsar war ruhmsüchtig, immer wieder sprach er vom Ruhm“ (KW 4, 308). Wegen Vergils Absicht, die Aeneis zu verbrennen, kommt es zu einem Wutausbruch Octavians.34 Eingedenk der alten Verbundenheit, die bis in die gemeinsam verbrachten Kindheitstage zurückreicht, schenkt Vergil schließlich Augustus das Manuskript der Aeneis. Das ist ein Zeichen der Freundschaft und der Versöhnung. Der Autor ist sich aber auch bewusst, dass die Aeneis in jeder Hinsicht dem Augustus – als Repräsentanten einer überholten Kultur – gehört. Eigentlich, so meint Vergil, hätte er das Werk zerstören, es als „Opfer“ (KW 4, 361, 363) darbringen sollen, ein Opfer im Dienst einer neuen, nur erahnten Religion. Im Gespräch mit Augustus hat Vergil die Grenzen von Macht und Politik benannt, die der religiösen und damit kulturellen Wiedergeburt gewiesen sind. Aber gleichzeitig hat er auch die Schranken bezeichnet, die für „Kunst“ und „Philosophie“ (KW 4, 323) gelten, wenn es um das Erkennen des „Heilbringers“ (KW 4, 358) als des „Erlösers“ (KW 4, 360) geht: Die Funktion der Religionsstiftung können sie nicht übernehmen.
Dichtung und Philosophie sollen aber einen Beitrag leisten, wenn es gilt, zwischen Ruhm und Unsterblichkeit zu unterscheiden. Dabei geht es im Tod des Vergil nicht lediglich um Projektionen eines Romanciers der klassischen Moderne, sondern um Bestimmungsversuche eines poeta doctus.35 Der „Begriff des Menschen“ ist nach Broch eine „platonische Idee“, d.h. der Mensch könne nicht auf die Zeitspanne „zwischen körperlicher Geburt und körperlichem Tod“ eingeschränkt werden, vielmehr sei „seine Würde“ im „apriori Zeitlosen“ verankert. Die menschliche „Tragik“ sei nicht „die des Sterbens“, sondern „die des Erkennens“ (KW 10/1, 34). Mit Platons Ideen- wie Seelenlehre und dessen Auffassung von der Unsterblichkeit war der Autor vertraut.36 Die hatte der griechische Philosoph im Dialog Phaidon dem Sokrates in den Mund gelegt: Vor seinem Tod erläutert Sokrates den Schülern die Unsterblichkeit der Seele. Im dritten Beweis wird postuliert, dass die Seele den Körper beherrsche und in dieser Funktion dem Göttlichen, dem Unveränderlichen und Unsterblichen ähnlich sei. Davon wusste Homer noch nichts. Bei ihm ist von einer Ähnlichkeit der Existenzweise zwischen den sterblichen Menschen und den Göttern als den Todlosen keine Rede. Den unsterblichen Göttern ist der Olymp vorbehalten, von den Menschen jedoch verbleiben auf ewig nur Schatten im Hades.37 Allerdings ist den Verstorbenen eine Surrogat-Unsterblichkeit als Nachruhm auf Erden möglich.38
Broch zitierte öfters den Ersten Korintherbrief des Apostel Paulus: Zum ersten wegen der zentralen Bedeutung, die Paulus dort der Liebe in der neuen Religion zuweist (KW 10/2, 171), zum zweiten wegen der These von der Unsterblichkeit der Seele und drittens wegen der erkenntnistheoretischen Aussage, dass man im Irdischen alles wie „durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ (KW 10/1, 176) nur rätselhaft und stückweise, nach dem Tode aber ganz erkennen könne.
Mit der Unsterblichkeit der Seele zum einen und mit dem irdischen, profanen, innerweltlichen Nachruhm zum anderen sind bereits jene beiden Arten vom Weiterleben nach dem Tode benannt, wie sie die europäische Geistesgeschichte prägen und wie sie in ihrer markanten Differenz auch in Brochs Tod des Vergil festgehalten werden. Die Dogmen der Kirchenlehrer von der Unsterblichkeit einer auf Erlösung ausgerichteten Seele des Einzelmenschen weicht von dem ab, was im vorchristlichen Abendland an Ideen zu diesem Komplex zirkulierte. Einflüsse von Platon und vor allem seines Wiederentdeckers Plotin auf christliche Mystiker sind jedoch nachzuweisen. Einer der Lieblingsautoren Brochs war Plotin. Dieser vertrat die Idee einer göttlichen Weltseele, deren Emanationen sich in materialen Körperwelten finden und die im Menschen eine Sehnsucht nach dem göttlichen Ursprung hinterlassen. Das sind Vorstellungen, deren Spuren man von Augustinus über Meister Eckhart und Goethe bis zu Broch verfolgen kann.39 Die Begriffe des Todes und der Unsterblichkeit bei Broch sind mystisch geprägt.40 Zu erinnern ist an Brochs frühe Faszination durch Meister Eckhart, zum zweiten an seine Beschäftigung mit der chassidischen Mystik, die bereits in den frühen 1920er Jahren begann (Martin Buber-Lektüre)41 und bis in die späten 1940er Jahre reichte (Besuch Gershom Scholems bei Broch).