Auch Hermann Broch hat sich mit der europäischen Kulturkrise in dem historischen Roman Der Tod des Vergil auseinandergesetzt. Schon in der Zwischenkriegszeit hatte er Essays zum „Zerfall der Werte“,12 den er konstatierte, und zum „Kulturtod“,13 den er befürchtete, geschrieben. Hier muss auf ein Parallelprojekt zu Brochs Roman hingewiesen werden. Wie Broch thematisierte Lion Feuchtwanger in seiner Josephus-Trilogie die kulturellen Konflikte im Übergang von der Antike zum Christentum. Auch diese Exilwerke können als Europa-Romane bezeichnet werden. Wie andere assimilierte jüdische Intellektuelle waren Broch und Feuchtwanger davon überzeugt, dass die europäische Kultur mit ihren Komponenten des Griechischen, Römischen, Jüdischen und Christlichen gegen den nationalsozialistischen Angriff verteidigt werden müsse. Feuchtwangers Romanheld ist der jüdische Historiograph Josephus. Die Josephus-Trilogie zeigt, wie schwierig sich die spätere europäische Kulturkombination im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung anließ: Griechen, Römer, Juden und Christen sind in heillose Konflikte verwickelt. Josephus steht in der Mitte dieser Auseinandersetzungen und versucht, gegen den verbreiteten Konfrontationskurs Brücken der Verständigung zu bauen. Sein Ziel ist es, eine kosmopolitische Identität zu entwickeln und vorzuleben, wobei er scheitert. Die Verschmelzung der Kulturen, von der Josephus träumt, bleibt in seiner Gegenwart aus, doch hofft er, dass sie die Zukunft Europas bestimmen werde.
Um kulturelle Konflikte des frühen cäsaristischen Roms geht es auch in Brochs Roman Der Tod des Vergil. Hier steht der bekannteste römische Dichter im Mittelpunkt des Geschehens. Die Religionskrise des Imperiums,14 die bereits vor der Christianisierung offenbar wurde, ist das Thema des Buches. Broch hatte Theodor Haeckers kulturphilosophische Schrift Vergil – Vater des Abendlandes von 193115 bald nach Erscheinen gelesen. Er war fasziniert von der dort entfalteten Idee, dass – wie schon Tertullian es gesehen hatte16 – Vergil als „anima naturaliter Chistiana“ zu verstehen sei. Der römische Autor habe Wertvorstellungen vertreten, mit denen er sich sukzessive von der durch Augustus restaurierten altrömischen Religion und ihren Kulten wie auch von der Selbstvergöttlichung des Kaisers entfernt habe. Das Bild der Mutter mit dem Kind in der vierten Ekloge Vergils wurde im frühen Christentum als Hinweis auf den Erlöser interpretiert.17 Vergil stehe bereits ein für ethische Positionen, die substantieller Bestandteil des Christentums geworden seien. Man denke an sein wiederholt gestaltetes Thema „amor vincit omnia“. Kulturgeschichtlich gesehen ist das eine gewagte These,18 aber Haecker konnte sich auf die Vergil-Hinwendung von Kirchenlehrern wie Augustinus und Dichtern wie Dante berufen.
Aktuelle Theorien zur europäischen Identität von Edgar Morin und Rémi Brague lesen sich, als hätten sie sie in der Auseinandersetzung mit den Romanen von Feuchtwanger und Broch entwickelt. Morin spricht in Penser l’Europe19 von der dialogischen Beziehung, die zwischen den griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Basiselementen der europäischen Kultur bestehen. Dabei orientiert er sich am Verständnis des Dialogischen, wie es von Michail Bachtin20 in Abgrenzung von der Dialektik Hegels entwickelt wurde. Morin sieht die europäische Kulturmischung nicht als Synthese, d.h. nicht als Ergebnis eines dialektischen Prozesses, sondern als eine Kombination von Bestandteilen, deren jeweilige ‚Logiken‘ konkurrierend, antagonistisch oder komplementär aufeinander bezogen bleiben. Das Griechische, das Römische, das Jüdische und das Christliche haben sich nach seiner Auffassung mit ihren Besonderheiten in der komplexen Kulturmischung durchaus erhalten, und gerade das mache ihre fruchtbare Spannung aus, die neue Renaissancen griechischer, römischer, jüdischer und christlicher Weltanschauungen und Lebensstile durch die Jahrhunderte hin ermögliche.
Rémi Brague stellte in seinem Buch Europe. La voie romaine21 die Theorie von der exzentrischen Struktur der Basiselemente europäischer Zivilisation auf. Für ihn wie für Morin, dessen Theorie er unbeachtet lässt, bilden Griechisches, Römisches, Jüdisches und Christliches die Grundlagen europäischer Kultur. Brague geht es dabei nicht um die dialogische Bezogenheit dieser Bestandteile, sondern um ihre exzentrische Konstellation. Rom ist zum einen das Zentrum einer antik-mediterranen, d.h. multikontinentalen Kultur, zum anderen auch Mittelpunkt des späteren lateinisch-christlichen Europas. Aber weder das antike noch das christliche Rom sind nach Brague ursprünglich und selbstbezogen, sondern haben ihre Zielvorgaben zum einen von Athen, zum anderen von Jerusalem erhalten. Exzentrisch sei das Rom der Antike und das Rom der Päpste, weil es jeweils angewiesen sei auf eine ursprüngliche Kultur: auf die griechische Athens bzw. die jüdische Jerusalems. Athen und Jerusalem seien Ursprung und Bezugspunkt des antiken wie des christlichen Roms, die jeweils als sekundär und nachgeordnet einzustufen seien. In wiederholten kulturellen Renaissancen und religiösen Reformationen habe sich die Stärke der beiden Vorbilder erwiesen. Der Mangel an Authentischem werde in Rom aber wettgemacht durch eine Dynamik, die gerade aus der Unabgeschlossenheit resultiere.
Es drängen sich Fragen auf, die bereits in Brochs Roman Der Tod des Vergil – also ein halbes Jahrhundert vor Brague – gestellt worden sind: Verstand Rom sich wirklich so stark auf Athen bezogen, dass es dort den Ursprung seiner Kultur gesehen hätte? Rom hatte seine eigenen Ursprungsmythen, in denen Athen nicht vorkommt. Brochs Buch erinnert daran, wie Vergil die durch Hellenen zerstörte Dynastie des Trojanischen Herrscherhauses rehabilitiert, indem er die Karriere des Aeneas zum Gründer Roms nachzeichnet. Die Überlegenheit Roms wird deutlich in den Vorstellungen über die Pax Romana,22 wie sie von Plinius dem Älteren in der Naturalis Historia, von Vergil in der Aeneis und von Ovid in den Fasti zum Ausdruck kommt: Rom vermittelt nach Plinius der ganzen Menschheit Humanitas (NH III, 39); Jupiter teilt dem Aeneas mit, dass er ihm „ein Reich ohne Grenzen“ geben werde (Aeneis I, 279), was in Brochs Roman von Augustus triumphierend zitiert wird (KW 4, 294), und Ovid hält fest, dass das Gebiet der Stadt Rom und des Erdkreises identisch sei (Fasti, 2. Buch, 684).23 Und verstand sich das Paulinische Christentum, das sich im Imperium Romanum ausbreitete, wirklich als so angewiesen auf das Judentum? Religionsgeschichtlich ist die Beziehung zwischen Tora und Neuem Testament wohl nicht auf die Formel von „ursprünglich“ und „sekundär“ zu bringen. Der Nachweis der Erfüllung der alten Prophezeiungen findet sich bei Paulus, den Evangelisten und den Patristikern. Erfüllung aber bedeutet Abschluss und Neubeginn.24 Die Autoren der Josephus-Trilogie und des Vergil-Romans veranschaulichen eher die dialogischen als die exzentrischen Beziehungen von Komponenten, die in die europäische Kulturmischung eingegangen