Für die Gastfreundschaft des Brenner-Archivs und für den von Christine Riccabona organisierten Ausflug gilt unser Dank Ulrike Tanzer. Das Symposium war der Beitrag des Brenner-Archivs zu den Feiern im Umkreis des 350. Geburtstags der Universität Innsbruck.
Paul Michael Lützeler, Januar 2020
Einleitung
Hermann Brochs Der Tod des Vergil im Kontext von Europa- und Ethik-Diskurs
von Paul Michael Lützeler (Washington University in St. Louis)
I. Kontext: Der literarische Europa-Diskurs – politische Krise und Kulturbruch
In allen Krisen- und Umbruchszeiten des Kontinents waren die Schriftsteller mit Rückblicken in die Vergangenheit, Analysen der Gegenwart und Zukunfts-Visionen zur Stelle. Es wurden kollektive Identitäten stabilisiert oder zu verändern gesucht,1 das kulturelle Gedächtnis aktiviert,2 die Gegenwart analysiert und imaginativ Möglichkeiten einer besseren Zukunft als Alternativen beschworen.3 Das ist noch immer so, wie die Europa-Essays von Autorinnen und Autoren wie Barbara Frischmuth, Adolf Muschg, Hans Magnus Enzensberger und Robert Menasse zeigen.
Der jahrhundertealte Europa-Diskurs, in dem es um die Überwindung dynastischer oder nationaler Konflikte auf dem Kontinent ging, kennt zwei Hauptaspekte, einen institutionellen und einen kulturellen.4 Dem institutionellen ist es um Entwürfe politischer Funktionseinheiten zu tun, die inter- und transnationale Kooperationen ermöglichen. Im Kulturdiskurs geht es um Definitionsversuche europäischer Identität. Seit der Frühmoderne dominierten die institutionellen Projekte, d.h. man dachte über konföderale Strukturen nach, die mit ihren Schiedsgerichten oder Abgeordnetenversammlungen militärische Konflikte verhindern würden oder zu Bündnissen führen sollten, falls fremde Großmächte – etwa das Osmanische Reich – europäische Länder erobern wollten. Hier sind Namen zu nennen wie die des Herzogs von Sully (im Dreißigjährigen Krieg), des Abbé de Saint-Pierre (am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs), Jean Jacques Rousseaus (während des Siebenjährigen Krieges) und Immanuel Kants (im Kontext der frühen Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich). Stets waren es die katastrophalen Folgen militärischer Aktionen, die Gelehrte und Schriftsteller herausforderten, Kooperationsprojekte zu entwerfen, um weitere Schwächungen des Kontinents zu verhindern. Mit der Zeit der Romantik nahm die Zahl der kulturell argumentierenden Autoren zu, die sich auf einheitsbildende christliche Traditionen besannen. Man denke an Novalis in Deutschland und François René de Chateaubriand in Frankreich. Angesichts der gewaltbereiten, konfrontativen Zerrissenheit Europas nach Reformation und Revolution, warteten sie mit Konstrukten von alter erinnerter wie künftig möglicher Unifikation auf.
Aus dem romantischen Fahrwasser scherte Nietzsche mit seinen Vorstellungen vom „guten Europäer“ am Ende des 19. Jahrhunderts aus. Hier wurde nicht auf christliche Religion und Moral, sondern auf Imperialismus und Macht gesetzt. Nietzsche durchdenkt aber auch die Religionskrise des Christentums in seiner Zeit.5 Der Lieblingsgegner in seinen Schriften ist Paulus, dem er vorwirft, er habe die Botschaft Jesu korrumpiert.6 Wo Paulus von der Auferstehung als der Erfüllung des Heilsplans spricht, ist bei Nietzsche vom Tod Gottes und der ewigen Wiederkehr die Rede, wo Paulus „agape“ und „caritas“ vertritt, bringt Nietzsche Apollinisches und Dionysisches ins Spiel, wo Paulus den Menschensohn Jesus zum Gott erhöht, beschränkt sich Nietzsche aufs Innerweltliche, wo Paulus eine Religion für die Verlassenen und Versklavten etabliert, verkündet Nietzsche die Idee des machtorientierten Übermenschen, wo Paulus Askese und Geißelung des Fleisches preist, wird bei Nietzsche das Diesseits gefeiert, wo Paulus das Opfer verherrlicht, plädiert Nietzsche für den Siegeswillen. Die Vorstellung vom „unbekannten Gott“, die Paulus7 wie Nietzsche8 umtreibt, wird völlig gegensätzlich gefüllt. Es zeigt sich, dass sich Hermann Broch bei seiner Auseinandersetzung mit der antiken Religionskrise zur Zeit des Augustus (also im Tod des Vergil) auf die Seite des Paulus schlägt. Wie Zarathustra eine literarisierte Stimme in einem philosophischen Text ist, ist auch Brochs Vergil eine fiktionalisierte Stimme des historischen Vorbilds. Brochs Vergil akzeptiert die Opferidee (KW 4, 175f.), er spricht sich gegen den Siegwillen aus und ist der Prophet einer neuen religiösen Auffassung, in deren Mittelpunkt Nächstenliebe und „Mitleid“ (KW 4, 22) stehen. Broch hatte schon die Schlafwandler-Trilogie mit dem Paulinischen Trostwort beendet: „Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier!“ (KW 1, 716)9 In einem späten Essay betonte Broch, dass Paulus am Beginn unserer Zeitrechnung „die neue Plausibilität“ in der Religionsauffassung repräsentiert habe, dass seine Leistung die „irdische Entdeckung des Gottessohnes“ (KW 11, 395) gewesen sei.10 Vergils Ethik kann als Projektion Hermann Brochs gesehen werden. Der gelangte nach der Erfahrung der Weltkriege und des Holocaust zu ganz anderen Schlüssen als Nietzsche. Brochs politische Ethik, die keinen Rekurs auf religiöse Dogmen kennt, ist zwar ohne Nietzsches Religionskritik schwer vorstellbar, doch ist alles Inhaltliche durch das Christentum des Paulus und die Mosaische Gesetzesreligion geprägt.
Eine klare Trennung von institutionellem und kulturellem Europa-Diskurs hat es nie gegeben. Angedeutet oder unausgesprochen standen Ideen einer europäischen Wertegemeinschaft im Hintergrund der institutionalistischen Projekte, und die Visionen kultureller Erneuerung kamen selten ohne Hinweise auf politisch-föderale Konstrukte aus. Der institutionelle Diskurs als Friedensdiskurs fand im 19. und 20. Jahrhundert seine Fortsetzung vor allem in Frankreich. Erinnert sei an die Kontinental-Publizistik von Claude-Henri de Saint-Simon und Victor Hugo. Sie wurde im frühen 20. Jahrhundert in Österreich von Bertha von Suttner und Richard Coudenhove-Kalergi aufgegriffen. Coudenhove-Kalergis Idee von Pan-Europa, die international Beachtung fand, wurde von den erstarkenden chauvinistischen Parteien in den 1920er und 1930er Jahren bekämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg meldeten sich wieder kulturell-religiös argumentierende Schriftsteller wie T.S. Eliot, Reinhold Schneider und (überraschenderweise) Ernst Jünger zu Wort. Das war der Zeitpunkt, zu dem Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil erschien.11
Brochs Buch ist auch im Kontext von Zeit- und Geschichtsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen. Da sind die Zeitromane Jean-Christophe von Romain Rolland und Der Zauberberg von Thomas Mann zu nennen. Innerhalb des Europa-Diskurses dominierte die Essayistik. Solche Erzählwerke sind aber ebenfalls als Beiträge zum kulturellen Europa-Diskurs zu verstehen und können als Europa-Romane bezeichnet werden. Sicher gibt es gattungsbedingte Unterschiede zwischen dem essayistischen und dem romanhaften Europa-Diskurs, was Intention und Rezeption betrifft. Vor allem in der Weite des Interpretationshorizonts unterscheiden sich die fiktionalen Werke von den Essays. Romain Rolland wie Thomas Mann wurden dann in der Folge aktive Teilnehmer auch am essayistischen Europa-Diskurs. Das Ziel Rollands in Jean-Christophe war es, eine europäische Identität bewusst zu machen. Anteile kollektiver Herkunftsidentitäten (Familie, Heimatort, Region und Nation) werden in ihrem Recht belassen, doch entdecken die Roman-Protagonisten aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz auch Verbindendes, das man als europäisch