Der Glöckner von Notre-Dame. Victor Hugo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643046
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betreten hatten, neue Persönlichkeiten auftauchten, die zu der Geleitschaft gehörten und deren Namen der Türsteher mit kreischender Stimme in Pausen zwischen seinen Dialog hineinschrie, womit er ein beträchtliches Durcheinander hervorrief. Diese seltsame Begleitung, die es schwierig machte, dem Stück zu folgen, empörte Gringoire um so mehr, als er sich nicht verhehlen konnte, daß das Interesse an seinem Werk in einem fort zunahm und ihm nichts weiter fehlte als ein freundliches Gehör. Es war in der Tat schwer, sich den Aufbau eines Stückes auszudenken, das mit größerem Genie ersonnen und dramatischer durchgeführt gewesen wäre als das Mysterium des Pierre Gringoire.

      Doch es war um das Werk selbst geschehen. Keine von den in ihm gebotenen Schönheiten wurde empfunden noch begriffen. Beim Eintritt des Kardinals war es gewesen, als ob ein unsichtbarer und zauberischer Faden plötzlich sämtliche Blicke von der Marmortafel nach der Estrade, vom südlichen Saalende nach der westlichen Seite hin gezogen hätte. Nichts vermochte die Zuhörerschaft aus dieser Bestrickung zu lösen. Aller Augen blieben dort festgebannt, und die neuen Ankömmlinge mit ihren verwünschten Namen, ihren Gesichtern und Gewändern waren eine fortwährende Ablenkung und Zerstreuung. Es war schier zum Verzagen! Mit welcher Bitternis im Herzen sah Gringoire das ganze Bauwerk seines Ruhmes Stück für Stück zusammenbrechen! Und dazu noch der Gedanke, daß dieses versammelte Volk hier auf dem Punkt gestanden hatte, sich gegen den Herrn Justizamtmann aufzulehnen aus Ungeduld, sein Werk zu hören! Jetzt aber, da man es hatte, fragte man nicht danach! Und doch war’s diese selbe Vorstellung, die in einem so einmütigen Beifallsgeklatsch ihren Anfang genommen hatte! Ewige Ebbe und Flut der Volksgunst! Man erwäge doch, daß nur wenig gefehlt hätte, so wären die Büttel des Amtmanns aufgeknüpft worden! Was hätte er darum gegeben, noch einmal diese Honigstunden zu erleben!

      Das grobe Selbstgespräch des Türstehers hörte indessen auf. Die ganze Gesellschaft war nunmehr angelangt, und Gringoire atmete auf. Die Schauspieler setzten die Darstellung wacker fort. Aber — steht da nicht plötzlich der Meister Coppenole, der Strumpfwirker, auf? Hört ihn nicht Gringoire inmitten der allgemeinsten Aufmerksamkeit die folgende abscheuliche Ansprache halten:

      «Meine Herren Bürger und Junker von Paris! Ich weiß, beim Kreuze Jesu, nicht, was wir hier treiben. Ich sehe freilich dort auf dem Gerüst Leute, welche aussehen, als wollten sie sich verprügeln. Ich weiß nicht, ob ihr darunter das versteht, was ihr ‹ein Mysterium› nennt; aber amüsant ist die Geschichte nicht! Sie fechten mit der Zunge, und sonst weiter nichts! Eine Viertelstunde ist’s nun her, daß ich den ersten Streich erwarte. Und nichts erfolgt. Feige Halunken sind’s, die sich nur mit Schimpfereien die Haut schinden! Von London und Rotterdam müßte man Kämpfer kommen lassen. Meiner Treu! da hätte’s Fausthiebe gesetzt — Fausthiebe, die man auf dem Platz draußen hätte hören können. Aber die Gesellen dort können einen ja jammern! Zum wenigsten mußten sie uns doch einen maurischen Tanz aufführen oder sonst eine Mummerei! Davon hatte man mir nichts gesagt. Man hatte mir ein Narrenfest mit Papstwahl verheißen. Wir haben unsern Narrenpapst in Gent auch, und in dieser Hinsicht sind wir, beim Kreuze Jesu! hinter euch nicht zurück! Aber wir machen die Sache so: Man trommelt sich einen Schwarm Leute zusammen, wie hier. Dann steckt ein jeder seinen Kopf durch ein Loch und schneidet den anderen eine Fratze. Wer die häßlichste schneidet, wird unter dem Ausruf aller Versammelten zum Papst erwählt. So, nun wißt ihr’s! Der Kram ist außerordentlich heiter. Wollt ihr, daß wir euern Papst nach Brauch und Sitte meines Landes wählen? Weniger albern und langweilig, als diesen Schwätzern zuzuhören, wird’s immerhin sein. Wollen sie ihre Fratze mit durchs Loch schneiden, so können sie an der Faxe teilnehmen. Was sagt ihr dazu, ihr Herren Bürgersleute? Wir haben hier ein Musterbuch aus beiden Geschlechtern, possierlich genug, daß es etwas zum Lachen geben kann auf vlämische Art — und häßlich genug sind wir von Gesicht auch, um eine herrliche Fratze erhoffen zu dürfen.»

      Gringoire hätte fürs Leben gern Antwort gegeben. Doch die Verblüffung, der Zorn, die Empörung, die sich seiner bemächtigten, raubten ihm die Sprache. Übrigens wurde die Anregung des volkstümlichen Strumpfwirkers von diesen Bürgersleuten, die sich dadurch, daß sie als «Junker» angesprochen worden waren, außerordentlich geschmeichelt fühlten, mit einer derartigen Begeisterung entgegengenommen, daß jeglicher Widerstand sinnlos war. Es blieb nichts anderes übrig, als mit dem Strom zu schwimmen. Gringoire verbarg sein Antlitz in den Händen. Im Nu war alles bereit, den Gedanken Coppenoles in die Tat umzusetzen. Bürger, Schüler und Schreiber hatten sich ans Werk begeben. Die kleine Kapelle der marmornen Tafel gegenüber wurde zum Fratzentheater erkoren. Eine zerbrochene Glasscheibe in der hübschen Rosette über der Tür ließ einen steinernen Kranz frei, durch den, wie alsbald festgesetzt wurde, die Bewerber um die Würde eines «Narrenpapstes nach vlämischem Brauch» den Kopf stecken sollten. Um hinaufzugelangen, genügte es, daß man auf zwei Fässer kletterte, die man irgendwo hergenommen und, so gut und schlecht es anging, aufeinandergestellt hatte. Es wurde angeordnet, daß jeglicher Kandidat, Mann oder Frau, um dem Eindruck seiner Fratze die Jungfräulichkeit und Vollständigkeit zu wahren, sich das Gesicht bedecken und in der Kapelle so lange verweilen sollte, bis der Zeitpunkt, sich zu zeigen, für ihn gekommen sei. In weniger als einem Augenblick war die Kapelle mit Bewerbern angefüllt, hinter denen sich die Pforte wieder schloß.

      Coppenole befehligte von seinem Platz aus alles, lenkte alles, ordnete alles. Während des Lärmens hatte sich der Kardinal, der seine Fassung nicht minder verloren hatte als Gringoire, unter dem Vorwand, von seinen Geschäften und durch den Vespergottesdienst abgerufen zu werden, mit seinem ganzen Gefolge zurückgezogen, ohne daß die Menge, die durch seinen Eintritt in so lebhafte Erregung versetzt worden war, sich bei seinem Hinweggang im geringsten alteriert gezeigt hätte. Wilhelm Rym war der einzige, welcher die Flucht Seiner Eminenz bemerkte.

      Die Fratzen nahmen ihren Anfang. Die erste Gestalt, die in dem Loch erschien, mit aufwärts gestülpten Augenlidern, einem rachenartig aufgerissenen Maul und einer falten- und runzelübersäten Stirn, rief solch ein unauslöschliches Gelächter hervor, daß Homer alle diese Rüpel für Götter gehalten hätte. Indes war der Hauptsaal nichts weniger als ein Olymp, und der arme Jupiter Gringoires wußte das besser als sonst jemand. Eine zweite, eine dritte Fratze folgten, dann eine andere, dann noch eine, und fortwährend verdoppelte sich das Lachen und das fröhliche Gestampfe mit den Beinen. Die Orgie nahm mehr und mehr vlämisches Gepräge an. Alles verwischte sich in der gemeinsamen Zügellosigkeit. Der Hauptsaal war nichts anderes mehr als ein mächtiger Herd der Unverschämtheit und Ungebundenheit, wo jeglicher Mund ein Schrei, jegliches Gesicht eine Fratze, jedes Individuum eine Figur war. Die Gesamtheit kreischte, brüllte, heulte.

      Man muß indes unserem Freund Jean Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mitten in diesem Tohuwabohu unterschied man ihn noch auf der Höhe seiner Säule, wie einen Schiffsjungen im Mastkorb. Er ereiferte sich mit unglaublicher Wut. Sein Mund stand weit offen, und ein Schrei entrang sich ihm, den man nicht hörte, nicht weil er von dem allgemeinen Getöse übertönt wurde, so heftig es war, sondern weil er zweifelsohne die Grenze der dem Ohr vernehmlichen schrillen Töne erreichte. Was Gringoire betrifft, so hatte er, nachdem die erste Erschütterung überwunden war, seine Fassung wiedergefunden. Er hatte sich gegen das Mißgeschick gestählt. «Fortfahren! Fortfahren!» hatte er seinen Komödianten, die nichts waren als sprechende Maschinen, zum dritten Male zugerufen. «Kämpfen wir bis zum Ende!» wiederholte er bei sich. «Die Macht der Dichtkunst über das Volk ist groß; ich werde die Leute zurückführen. Wir werden ja sehen, wer den Sieg behalten wird: die Fratzen oder die schönen Wissenschaften!»

      Ach! er blieb der einzige Zuschauer seines Stückes!

      Mit einem Mal erscholl ein Donner von Beifallsgeklatsch im Verein mit einem nicht enden wollenden Jubelgeschrei: der Narrenpapst war gewählt.

      «Juchheisa! juchhe! juchheisa!» tobte das Volk an allen Ecken und Enden.

      Es war in der Tat eine wunderbare Fratze, die in diesem Augenblick im Loch der Rosette erstrahlte. Sogar Meister Coppenole spendete Beifall, und Clopin Trouillefou, der als Mitbewerber auf getreten war — und Gott weiß, welchen hohen Grad von Häßlichkeit sein Gesicht erreichen konnte! —, erklärte sich für besiegt.

      Die Begeisterung war einmütig. Man stürzte nach der Kapelle hin. Man führte den glücklichen Narrenpapst im Triumph heraus. Aber nunmehr waren das Erstaunen und die Bewunderung auf ihrem Gipfelpunkt: die Fratze war sein