«Meine verehrten Herren Bürger», sprach er, «und meine verehrtesten Frauen Bürgerinnen! Wir sollen der Ehre teilhaftig werden, vor Seiner Eminenz dem Herrn Kardinal ein sehr schönes Sittenspiel des Titels ‹Das lautere Urteil der edlen Jungfrau Maria› zu sprechen und darzustellen. Ich, sehr geehrte Versammlung, mache den Jupiter. Seine Eminenz begleitet in diesem Augenblick die sehr ehrbare Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Österreich, die zur gegenwärtigen Stunde dabei verweilt, an der Pforte von Baudet die Ansprache des Herrn Universitätsrektors anzuhören. Sobald der allerlauchte Herr Kardinal eingetroffen sein wird, werden wir sofort beginnen . . .»
Da verlor sich seine Stimme in einem Donner von Hohngeschrei.
«Fangt auf der Stelle an! Das Mysterium, sogleich das Mysterium!» raste das Volk. Und über alle Stimmen hinweg hörte man diejenige des Jean Frollo du Moulin, der das Getöse überschrie wie der Pfeifer bei einer Katzenmusik von Nîmes. «Fangt auf der Stelle an!» kreischte der Student.
«Auf der Stelle das Sittenspiel!» wiederholte die Menge. «Sogleich, sogleich! Den Sack und den Strick für die Komödianten und den Kardinal!»
Der arme hohläugige, verstörte, unter seiner Schminke erbleichte Jupiter ließ seinen Blitz fallen und griff mit der Hand nach seinem Zweispitz. Er wußte nicht, was er, wie er sprechen sollte. Im Grunde hatte die Furcht, gehenkt zu werden, ihn beschlichen. Gehenkt von der Volksmasse, weil er wartete — gehenkt vom Kardinal, weil er nicht gewartet hätte: so sah er auf beiden Seiten bloß ein einziges Ende, nämlich den Galgen. Zum Glück kam jemand herzu, ihn seiner Verlegenheit zu entreißen und die Verantwortung auf sich zu nehmen. Dieses Individuum, ein großer, magerer, bleicher, blonder, noch junger, wenn auch an Stirn und Mundwinkeln tiefe Falten aufweisender Mensch mit leuchtenden Augen und lächelnden Lippen, der in schwarzes, vom Alter zerschlissenes und glänzend gewordenes Sergezeug gekleidet war, näherte sich der Marmortafel und gab dem armen Dulder einen Wink. Der andere aber, völlig in Schrecken gejagt und verdutzt, sah nichts. Der neue Ankömmling trat noch einen Schritt vor.
«Jupiter!» rief er, «mein lieber Jupiter!»
Der andere hörte nicht das geringste. Endlich rief der lange Blonde, von Ungeduld ergriffen, fast unmittelbar vor seiner Nase:
«Michel Giborne!»
«Wer ruft nach mir?» sprach Jupiter, wie jäh aus dem Schlafe geschreckt.
«Ich», sagte die schwarzgekleidete Person.
«Ah!» machte Jupiter.
«Fangt auf der Stelle an!» nahm der andere wieder das Wort. «Befriedigt das Volk! Ich nehme es auf mich, den Herrn Justizamtmann zu besänftigen, der seinerseits den Herrn Kardinal besänftigen mag.»
Jupiter schöpfte Atem.
«Meine Herren städtischen Bürger!» schrie er mit aller Kraft seiner Lungen zu der Menge, die fortfuhr, ihn zu höhnen, «wir werden sogleich beginnen!»
Darauf ertönte ein ohrenbetäubendes Händeklatschen, und Jupiter war schon wieder unter seinem Tapetenvorhang verschwunden, als der Saal noch immer von beifälligen Zurufen erbebte. Die unbekannte Persönlichkeit indessen, die so zauberhaft den «Sturm zu Stille» gewandelt hatte, war bescheidentlich in das Halbdüster einer Säule zurückgetreten und wäre dort unzweifelhaft unsichtbar, unbeweglich und stumm verblieben, wäre sie nicht von zwei jungen Frauenzimmern von dort hinweggezogen worden, die in der ersten Zuschauerreihe ihren Platz gefunden und das Zwiegespräch mit Michel Giborne-Jupiter verfolgt hatten.
«Magister!» sagte die eine von ihnen, während sie ihm ein Zeichen gab, näherzukommen.
«Verhalten Sie sich doch still, liebe Liénarde», sprach ihre Nachbarin Gisquette, ein niedliches, frisches und in seinem Sonntagsstaat recht stattliches Mädchen. «Es ist ja kein Geistlicher, sondern ein Weltlicher; da darf man nicht ‹Magister›, da muß man ‹Herr› sagen.»
«Mein Herr!» wiederholte darauf Lienarde.
Der Unbekannte trat an das Geländer heran.
«Was wünschen Sie wohl von mir, meine Damen?» fragte er mit Diensteifer.
«Oh, nichts», sagte Liénarde ganz verwirrt; «meine Nachbarin Gisquette la Gencienne wollte Euch sprechen.»
«Nicht doch», antwortete Gisquette errötend; «Liénarde hat Euch mit ‹Magister› gerufen; ich habe ihr nur gesagt, daß man mit ‹Herr› zu rufen hat.»
Die beiden jungen Mädchen schlugen die Augen nieder. Der Fremde, der nichts anderes wünschte, als ein Gespräch anzuknüpfen, betrachtete sie mit lächelnder Miene.
«Sie haben mir also gar nichts zu sagen, meine Damen?»
«Oh, gar nichts!» antwortete Gisquette.
«Nichts!» sagte Liénarde.
Der lange, junge, blonde Mensch tat einen Schritt, um sich zurückzuziehen. Die beiden neugierigen Frauenzimmer hatten aber keine Lust, ihn freizugeben.
«Mein Herr», begann Gisquette von neuem, «wird denn dieses Mysterium hübsch werden?»
«Zweifelsohne», antwortete er. Dann setzte er mit einer gewissen Emphase hinzu: «Meine Damen! Ich bin sein Verfasser!»
«Wahrhaftig?» riefen die jungen Mädchen ganz verdutzt.
«Wahrhaftig!» antwortete der Dichter, sich leicht in die Brust werfend, «das heißt, wir sind unser zwei: Jean Marchand, der das Gerüst zum Theater aufgeführt hat, und ich, der ich das Stück gemacht habe. Mein Name ist Pierre Gringoire.»
Schon eine geraume Zeit war verflossen seit dem Augenblick, da Jupiter wieder unter dem Tapetenvorhang verschwunden war. Studiosus Jean war indes keineswegs eingeschlafen.
«Holla ho!» schrie er plötzlich in das friedfertige Warten hinein, das auf den Wirrwarr gefolgt war, «Jupiter! Heilige Jungfrau! Gaukler des Satans! Foppt ihr uns? Das Stück! Das Stück! Fangt an — oder wir fangen wieder an!»
Weiteres war nicht nötig. Eine Musik von hohen und tiefen Instrumenten ward aus dem Innern des Gerüstes vernehmlich. Der Tapetenvorhang hob sich. Vier buntscheckige, geschminkte Personen kamen zum Vorschein, kletterten die steile Theaterleiter hinauf und stellten sich, auf der oberen Plattform angelangt, in Reih und Glied vor dem Publikum auf, vor welchem sie sich tief verneigten. Darauf schwieg die Musik. Das Mysterium fing endlich an. Die vier Personen begannen, nachdem sie für ihre Komplimente den reichsten Lohn in Beifallsklatschen eingeheimst hatten, inmitten eines gläubigen Schweigens einen Prolog zu sprechen.
Es hätte viel böser Wille dazu gehört, um aus dem poetischen Inhalt des Prologs nicht zu begreifen, daß in Gestalt der vier allegorisch die Arbeit mit dem Handel, die Geistlichkeit mit dem Adel vermählt war.
In dieser Menschenmenge, auf welche die Sprecher nach bestem Können Fluten von Metaphern ergossen, gab es kein aufmerksameres Ohr, kein schlagenderes Herz, kein unruhigeres Auge, keinen gestreckteren Hals als das Auge, das Ohr, den Hals und das Herz des Verfassers, des Dichters, jenes braven Pierre Gringoire, der im Augenblick zuvor der Freude, den beiden hübschen Mädchen seinen Namen zu sagen, nicht hatte widerstehen können. Er war ein paar Schritte von ihnen entfernt hinter seinen Pfeiler zurückgetreten, und dort hörte er, sah er, dort weidete er sich an allem. Das wohlwollende Beifallsgeklatsch, das den Anfang seines Prologs bewillkommnet hatte, hallte noch in seinem Innersten wider, und er war ganz und gar vertieft in jene Art von verzückter Betrachtung, mit welcher ein Verfasser seine Gedanken Stück für Stück aus dem Munde des Darstellers in die Stille einer großen Zuhörerschaft gleiten sieht oder hört. Ehrsamer Pierre Gringoire! Aber diese erste Ekstase wurde sehr schnell zerstört. Kaum hatte Gringoire seinen Lippen jenen berauschenden Becher der Wonne und des Triumphes genähert, als ein Wermutstropfen sich darein mischen sollte.
Ein zerlumpter Bettler, welcher, verirrt mitten in der Menge, nicht hatte betteln können und in den Taschen seiner Nachbarn keinen ausreichenden Schadenersatz gefunden haben mochte, war auf den Einfall gekommen, sich auf irgendeinem scharf in die Augen springenden Punkt niederzulassen, um die Blicke und damit womöglich