«Ei, seht doch den siechen Kerl, der um Almosen bettelt!»
Gringoire zitterte, als ob ihn ein elektrischer Schlag erschüttert hätte. Der Prolog blieb stecken, und alle Köpfe drehten sich lärmend nach dem Bettler herum, der, statt aus der Fassung zu geraten, in diesem Zwischenfall vielmehr eine günstige Gelegenheit zur Ernte sah und mit schmerzzerrissener Miene, die Augen halb schließend, zu rufen anfing:
«Eine milde Gabe, wenn Sie geruhen wollen!»
«Holla doch, bei meiner Seele!» rief Jean; «das ist ja Clopin Trouillefou! Holla, Freund! Hat dich denn deine Wunde am Bein geniert, daß du sie dir auf den Arm gelegt hast?»
Der Bettler nahm, ohne zu mucksen, Almosen und Spott hin und fuhr mit jämmerlicher Stimme fort:
«Eine milde Gabe, wenn Sie geruhen wollen!»
Dieser Zwischenfall hatte die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft erheblich abgelenkt. Gringoire war äußerst unzufrieden. Nachdem er sich von seiner Bestürzung erholt hatte, ermannte er sich so weit, den vier auf der Bühne stehenden Personen zuzurufen:
«Fahrt doch fort! Teufel auch, so fahrt doch fort!»
In diesem Augenblick fühlte er sich am Saume seines Mantels gezupft. Er drehte sich um, nicht ohne einigen Verdruß, und es kostete ihn Mühe, ein Lächeln zu zeigen. Es blieb ihm indes nichts weiter übrig. Es war der hübsche Arm Gisquettes, der durch das Geländer gegriffen und seine Aufmerksamkeit so wachgerufen hatte.
«Sagen Sie doch, mein Herr», fragte das junge Mädchen, «werden sie denn fortfahren?»
«Ohne Zweifel», antwortete Gringoire, von der Frage ziemlich unangenehm berührt.
«In diesem Falle, mein Herr», bat sie weiter, «hätten Sie wohl die Höflichkeit, mir auseinanderzusetzen —»
«Was sie sagen werden?» unterbrach Gringoire. «Nun, dann hören Sie doch zu!»
«Nein!» meinte Gisquette, «sondern was sie bis jetzt gesagt haben.»
Gringoire machte einen Satz wie ein Mensch, in dessen Wunde man den Finger legt.
«Die Pest über dich, dummes, vernageltes Ding!» brummte er zwischen den Zähnen. Von diesem Augenblick an war Gisquette für ihn eine abgetane Sache.
Die Schauspieler hatten jedoch seiner Aufforderung gehorcht, und das Publikum, als es sah, daß sie erneut zu sprechen anfingen, hatte sich wieder darein gefügt, zuzuhören — freilich nicht ohne daß ihm bei der Art der Lötung, wie die beiden Teile des so plötzlich unterbrochenen Stückes zusammengeschweißt wurden, mancherlei Schönheiten entgingen. Gringoire stellte diese bittere Betrachtung bei sich ganz leise an. Die Ruhe war indes allmählich wiederhergestellt; der Bettler zählte einiges Kleingeld in seinem Hut. Das Schauspiel hatte endgültig die Oberhand gewonnen, als die weithin schallende Stimme des Türstehers verkündete:
«Seine Eminenz der hochwürdige, gnädige Herr Kardinal von Bourbon!»
Was Gringoire befürchten mußte, verwirklichte sich nur allzu sehr. Der Eintritt Seiner Eminenz brachte die Zuhörerschaft außer Rand und Band. Alle Köpfe wendeten sich nach der Estrade. Es war kein Wort mehr zu verstehen.
«Der Kardinal! Der Kardinal!» wiederholte ein Mund wie der andere. Der unglückliche Prolog geriet zum zweiten Male ins Stocken.
Der Kardinal blieb einen Augenblick auf der Schwelle der Estrade stehen. Während er einen ziemlich gleichgültigen Blick über die Zuhörerschaft schweifen ließ, verdoppelte sich der Tumult. Jeder wollte Seine Eminenz am besten sehen.
Es war in der Tat eine bedeutsame Persönlichkeit, deren Anblick wohl jedem Schauspiel gleichkam. Charles, Kardinal von Bourbon, Erzbischof und Graf von Lyon, Primas beider Gallien, war zugleich verwandt mit Ludwig XI. durch seinen Bruder Pierre, Seigneur von Beaujeu, der die älteste Tochter des Königs geehelicht hatte, und durch seine Mutter, Agnes von Burgund, verwandt mit Karl dem Kühnen. Im übrigen war er ein guter Mensch. Er führte ein vergnügliches Kardinalsleben, erfreute sich gern an dem königlichen Gewächs von Chaluau, gab hübschen Dirnen lieber ein Almosen als alten Weibern und war aus allen diesen Gründen beim Volk von Paris sehr wohlgelitten. Darüber hinaus war der Herr Kardinal von Bourbon ein stattlicher Mann, der mit außerordentlichem Anstand ein sehr schönes rotes Gewand trug; aus diesem Umstand folgte, daß er die ganze Frauen- und Damenwelt, und infolgedessen den stärkeren Teil der Zuhörerschaft, für sich hatte.
Er trat also ein, begrüßte die Versammlung mit jenem bei den großen Herren erblichen Lächeln für das Volk und verfügte sich mit langsamen Schritten nach seinem scharlachnen Samtsessel, mit einer Miene, die auf Beschäftigung mit allerhand anderen Dingen deutete. Diese Sorge, die ihm auf den Fersen folgte und fast zur nämlichen Zeit wie er den Fuß auf die Estrade setzte, war die Gesandtschaft von Flandern. Der Kardinal drehte sich, und zwar mit der bestmöglichen Huld der Welt, nach der Tür herum, als der Türsteher mit weithin schallender Stimme verkündete:
«Die Herren Gesandten des gnädigen Herrn Herzogs von Österreich!»
Nunmehr kämen, paarweise, voller Gravität, die achtundvierzig Gesandten Maximilians von Österreich. In der Versammlung trat eine von ersticktem Lachen begleitete Stille ein, da man alle die kauderwelschen Namen und bürgerlichen Klassifizierungen vernehmen wollte, die eine jede von diesen Persönlichkeiten, ohne sich irremachen zu lassen, in schier unerschütterlicher Weise dem Türsteher bekanntgab, welcher sodann Namen, Rang und Titel in buntem Wirrwarr und greulich verstümmelt mitten hinein in die Menge warf.
Es waren richtige vlämische Köpfe, würdige und strenge Gestalten vom Schlage jener, die Rembrandt so kräftig und ernst auf dem schwarzen Hintergrund seiner «Nachtwache» herausgehoben hat; Persönlichkeiten, denen sämtlich auf der Stirn geschrieben stand, daß Maximilian «vollen Grund» hatte, wie es in seinem diesbezüglichen Erlaß hieß, «auf ihren Sinn, auf ihre Tapferkeit, Erfahrung, Treue und auf ihren ehrlichen Willen sich zu verlassen».
Einen indes ausgenommen, und das war ein feines, pfiffiges, verschlagenes Gesicht, eine Art von «Affen- und Diplomaten-Visage», welcher der Kardinal drei Schritt entgegenging und vor der er eine tiefe Verbeugung machte; trotzdem hieß diese Persönlichkeit schlichtweg nur Wilhelm Rym, Rat und Pensionär der Stadt Gent.
Während der Pensionär von Gent und die Eminenz sich gegenseitig ein sehr tiefes Kompliment machten und mit noch tieferer Stimme ein paar Worte wechselten, zeigte sich ein Mann von hoher Gestalt, mit breitem Gesicht und gewaltigen Schultern im Eingang, um neben Wilhelm Rym die Estrade zu betreten. Es war, als wenn sich eine Dogge neben einen Fuchs drängte. Sein Zweispitz aus Filz und sein ledernes Koller erschienen gewissermaßen wie ein Fleck mitten in diesem Sammet und dieser Seide. In der Meinung, einen verlaufenen Stallknecht vor sich zu haben, hielt der Türsteher ihn fest.
«Heda, Freundchen, hier ist kein Eingang!»
Der Mann mit dem Lederkoller stieß ihn mit einem Ruck der Schulter zurück.
«Was will der Hansdampf von mir?» rief er mit einer Stimme, so laut, daß der ganze Saal auf dieses seltsame Zwiegespräch aufmerksam wurde. «Siehst du nicht, daß ich hierher gehöre?» «Euer Name?» fragte der Türsteher.
«Jakob Coppenole.»
«Euer Stand und Rang?»
«Strumpfwirker, mit dem Schilde ‹Zu den drei Kettchen› in Gent.»
Der Türsteher fuhr zurück. Stuhlschöppen und Bürgermeister anzukündigen ging noch an;