«Rufen Sie aus: Meister Jakob Coppenole, Schöppenstuhlschreiber der Stadt Gent!» blies er ihm leise ein.
«Türsteher!» ergriff nun auch der Kardinal mit lauter Stimme das Wort, «verkündigt: Meister Jakob Coppenole, Schöppenstuhlschreiber der erlauchten Stadt Gent!»
Das war ein Fehlgriff. Wilhelm Rym allein hätte die Schwierigkeit spielend beseitigt; aber den Kardinal hatte Coppenole verstanden.
«Nein, beim Kreuze Jesu!» rief er mit seiner Donnerstimme.
«Jakob Coppenole, Strumpfwirker! Verstehst du, Türsteher? Nichts mehr, nichts weniger. Beim Kreuze Jesu, Strumpfwirker, das ist genug. Der Herr Erzherzog hat mehr als einmal seinen Handschuh in meinen Hosen gesucht.»
Gelächter und Klatschen erschallte. Ein schlechter Witz wird in Paris sofort verstanden und mithin immer beklatscht. Setzen wir hinzu, daß Coppenole wie das ihn hier umgebende Publikum aus dem Volk stammte. Deshalb war die Beziehung zwischen ihnen und ihm im Nu, elektrisch, sozusagen stehenden Fußes, bewirkt worden. Der hochmütige Ausfall des vlämischen Strumpfwirkers hatte, da er die Hofleute demütigte, in sämtlichen plebejischen Gemütern ein gewisses, im fünfzehnten Jahrhundert noch unklares und undeutlich zutage tretendes Würdigkeitsgefühl aufgerüttelt. Er war einer von ihrem Stand, ihrem Schlag, dieser Strumpfwirker, der eben dem Herrn Kardinal die Stirn geboten hatte!
Coppenole begrüßte Seine Eminenz mit Stolz, und der Kardinal erwiderte den Gruß des allvermögenden, von Ludwig XI. gefürchteten Bürgers. Dann, während Wilhelm Rym den beiden mit spöttischem und überlegenem Lächeln folgte, begaben sie sich jeder auf seinen Platz, Seine Eminenz ganz außer Fassung und voller Sorgen, Coppenole ruhig und hochmütig. Indes war für den armen Kardinal noch nicht alles zu Ende, und er mußte den Becher, sich in so schlechter Gesellschaft zu befinden, bis zur Neige leeren!
Die Ankunft der erlauchten Gäste hatte jenen frechen Bettler durchaus nicht vermocht, seine Beute fahren zu lassen, und während Prälaten und Gesandte sich wie richtige holländische Heringe in die Verschläge der Tribünen zusammenpferchten, hatte er sich bequem hingestreckt und die Beine auf dem Schwibbogen keck übereinandergeschlagen. Die Unverschämtheit war beispiellos, und niemand hatte sie im ersten Augenblick bemerkt, da sich die Aufmerksamkeit anderswohin richtete. Er seinerseits ließ sich durch nichts im Saale stören, wiegte mit neapolitanischer Sorglosigkeit den Kopf hin und her und wiederholte von Zeit zu Zeit in dem Lärmen mit der Gewohnheit einer Maschine: «Ein Almosen, wenn die Herrschaften geruhen wollen!» Und ganz gewiß war er in der ganzen Versammlung der einzige, welcher sich nicht herbeigelassen hatte, bei der Auseinandersetzung zwischen Coppenole und dem Türsteher den Kopf zu drehen.
Nun wollte es der Zufall, daß der Genter Strumpfwirkmeister, mit dem das Volk so lebhaft sympathisierte und auf den aller Augen gerichtet waren, gerade in die erste Reihe oberhalb des Bettlers zu sitzen kam, und das Erstaunen war nicht gering, als man den vlämischen Gesandten, sobald er den unter seinen Augen postierten Strolch beaugenscheinigt hatte, ihm freundschaftlich auf die mit Lumpen bedeckte Schulter klopfen sah. Der Bettler drehte sich um; auf beiden Gesichtern stand Erstaunen, Dankbarkeit, Freude zu lesen; dann fingen der Strumpfwirker und der Sieche, ohne sich im geringsten um die Welt der Zuschauer zu bekümmern, mit leiser Stimme an zu plaudern; dabei ruhten beider Hände ineinander, und die Lumpen Clopin Trouillefous, die sich über den Goldstoff der Estrade breiteten, machten den Eindruck einer Raupe auf einer Apfelsine.
Die Neuartigkeit dieses merkwürdigen Schauspiels erregte einen solchen Sturm von Narrheit und Lustigkeit im Saal, daß der Kardinal nicht umhin konnte, von ihm Notiz zu nehmen. Er beugte sich also über die Brüstung, und da er von dem Standpunkt, auf den ihn die Festordnung gewiesen hatte, das abscheuliche Bettlerkleid Trouillefous nur sehr unvollkommen sehen konnte, bildete er sich ganz naturgemäß ein, daß der Strolch um Almosen bitte, und rief, über solche Verwegenheit empört:
«Herr Palastamtmann! Werft diesen Schlingel in den Fluß!»
«Beim Kreuze Jesu, hochwürdiger Herr Kardinal!» sagte da Coppenole, ohne Clopins Hand loszulassen, «das ist ja einer von meinen Freunden.»
«Juchhe, juchhe!» schrie der Haufen. Von diesem Augenblick an hatte Coppenole wie in Gent, auch in Paris gewaltiges Ansehen beim Volke gefunden.
Seit der Kardinal eingetreten war, hatte Gringoire nicht aufgehört, sich um das Wohlergehen seines Prologs zu beunruhigen. Er hatte zuerst den in Ungewißheit schwebenden Darstellern auferlegt, fortzufahren und die Stimmen zu verstärken; dann, als er sah, daß niemand zuhörte, hatte er ihnen Halt geboten, und seit etwa einer Viertelstunde — so lange dauerte nun die Störung — hatte er nicht eine Sekunde aufgehört, mit dem Fuße zu stampfen und sich um Aufmerksamkeit für das Stück zu bemühen. Alles umsonst! Kein einziger wandte den Blick von dem Kardinal, von der Gesandtschaft und von der Estrade, dem alleinigen Mittelpunkt dieses weitumfassenden Kreises. Man darf übrigens auch glauben, und wir sprechen dies zu unserem Leidwesen aus, daß der Prolog die Zuhörerschaft seit dem Augenblick, da Seine Eminenz das Interesse von ihm abgelenkt hatte, einigermaßen zu langweilen anfing. Schließlich war es auf der Estrade wie auf der marmornen Tafel immer das nämliche Schauspiel: der Konflikt zwischen Arbeit und Geistlichkeit, zwischen Adel und Handel. Und viele Leute sahen sie lieber lebendig und leibhaftig, so wie sie atmeten und handelten, sich stießen und drängten, in Fleisch und Knochen, in jener vlämischen Gesandtschaft, in diesem bischöflichen Hof, unter dem Talar des Kardinals, unter dem Koller Coppenoles, als geschminkt, herausstaffiert, in Versen plappernd und sozusagen ausgestopft und ausgefüttert unter den gelben und weißen Röcken, mit denen Gringoire sie vermummt hatte.
Als unser Dichter indessen sah, daß die Ruhe ein bißchen wiederzukehren anfing, drängte er sich möglichst weit in die Menge vor und fing mit lauter Stimme an zu schreien:
«Fangt wieder von vorn an mit dem Mysterium! Fangt wieder von vorn an!»
«Teufel auch!» rief Jean Frollo du Moulin, «was plärren die Kerle dort unten am Ende? Sagt, Kameraden! Ist das Mysterium denn noch nicht zu Ende? Sie wollen’s von vorn wieder anfangen — das ist nicht in der Ordnung!»
«Nein, nein!» riefen sämtliche Schüler. «Nieder mit dem Mysterium! Nieder damit!»
Dieses Geschrei zog die Aufmerksamkeit des Kardinals auf sich. Er winkte den Justizamtmann herbei. Dieser näherte sich Seiner Eminenz und erklärte, nicht ohne sehr für seinen Frieden zu fürchten, stotternd die populäre Ungebührlichkeit und Kopflosigkeit: daß die Mittagsstunde vor Seiner Eminenz gekommen und die Darsteller zum Anfang gezwungen worden seien, ohne den Eintritt Seiner Eminenz abzuwarten.
Der Kardinal schüttelte sich vor Lachen.
«Meiner Treu! Was sagen Sie dazu, Meister Wilhelm Rym?»
«Gnädigster und hochwürdigster Herr», antwortete Wilhelm Rym, «erklären wir uns zufrieden damit, daß wir der Hälfte der Komödie entgangen sind. Etwas gewonnen ist immer dabei!»
«Können die Halunken also mit ihrer Posse weitermachen?» fragte der Amtmann.
«Fahrt fort! Fahrt fort!» sagte der Kardinal; «mir ist’s gleichgültig. Ich will inzwischen mein Brevier lesen.»
Der Amtmann trat an den Rand der Estrade vor und rief, nachdem er mit einer Handbewegung Schweigen geboten hatte: «Bürger, Sassen und Einwohner! Um diejenigen, welche den Wiederanfang, und diejenigen, welche den Schluß begehren, zufriedenzustellen, befiehlt Seine Eminenz die Fortsetzung des Spiels!»
Damit mußten sich’s wohl oder übel beide Parteien genügen lassen. Indessen hatten der Verfasser sowohl als das Publikum lange Zeit deshalb eine rege Empfindung des Grolls gegen den Kardinal.
Die an der Bühnenhandlung beteiligten Personen nahmen also ihre Rede wieder auf, und Gringoires Herz erfüllte die Hoffnung, daß wenigstens der Rest von seinem Werk gehört werden würde. Diese Hoffnung wurde, gleich seinen übrigen, betrogen. Das Schweigen war tatsächlich im Zuhörerraum einigermaßen wiederhergestellt; aber Gringoire hatte nicht bemerkt, daß