„Guck mal da!“, knurrte Mark und nickte in Richtung eines schwarzen Peugeot 208. „Was macht der da auf der linken Spur? Hat denn keiner in der Fahrschule gelernt, dass man sich rechts halten soll, damit andere wenigstens eine kleine Chance haben zu überholen? Besonders bei dem Schneckentempo, das hier an den Tag gelegt wird!“
Roland schaute auf. Er hatte in dem Ausdruck des Berichts über den Überfall gelesen. „Viele glauben fälschlicherweise, dass das dänische Autobahnnetz aus zwei Spuren besteht und nicht aus einer plus einer Überholspur.“
Mark hatte auf die linke Spur rübergezogen und drängte den Peugeot nach rechts. Kurz darauf scherte er vor ihm ein. Mit dem Tempomat hatte er die ganze Zeit die gleiche Geschwindigkeit gehalten. Er schaute in den Rückspiegel. „Natürlich eine Tussi. Die können echt nicht Auto fahren!“
Wenn Mark nicht das neckende Lächeln und das Blitzen in den Augen gehabt hätte, hätte Roland die Ausdrucksweise nicht gemocht.
Sobald sie die Lillebæltsbrücke verließen und auf die Autobahn Fünens fuhren, dachte Roland an Tomaten und Äpfel, was seiner romantischen Vorstellung von Fünen gleichkam. Apfelmus und Alfred und Katrines Tomaten, die er immer für seine selbstgemachte Tomatensoße verwendete. Als sie das Ortsschild von Odense passierten, sprangen die Gedanken von Tomaten und Äpfeln zu H.C. Andersen. Fünen war eine richtige Märcheninsel. Aber wie in allen Märchen war nichts die reine Idylle. Es gab auch die dunkle Seite. Hexen und Trolle. Roland hatte mit dem Krankenhaus einen Besuch bei Alberte und Sander Lindholm abgesprochen, dem der Arzt widerwillig zugestimmt hatte, als ihm klar wurde, dass er von der Unabhängigen Polizeibehörde anrief.
Aber zuerst statteten sie Sander Lindholms Chef, Polizeidirektor Harald Andersen, einen Besuch in seinem Büro ab.
„Das ist eine sehr tragische Angelegenheit“, sagte der Polizeidirektor einleitend und schloss die Tür hinter ihnen. Er bot ihnen Platz auf Stühlen vor seinem Schreibtisch an.
„Wir würden natürlich gerne hören, worin Ihr Verdacht besteht, bevor wir Sander Lindholm besuchen“, sagte Roland.
„Hmm, ja. Ich hoffe, das bleibt vorerst unter uns.
Harald Andersen schwieg und sah sie fragend mit wehmütigen, blassblauen Augen an, die zu der Farbe des Hemds passten. Roland und Mark mussten bestätigen, dass sie selbstverständlich diskret sein würden, bevor er fortfuhr.
„Es ist so, dass während der Verhaftung von vier Bandenmitgliedern von Black Swan ein größerer Bargeldbetrag verschwunden ist. Sander Lindholm und sein Partner waren die Ersten vor Ort. Sander ist reingegangen, ohne auf die Verstärkung zu warten, die sein Partner gerufen hatte. Möchten Sie einen Kaffee?“
Sie schlugen das Angebot aus.
„Sie meinen also, dass Sander Lindholm das Geld gestohlen hat und die Bande das nun im Tausch für den Sohn haben will?“, vergewisserte sich Roland.
„Ich weiß, das ist eine heftige Anklage. Sander ist an sich ein absolut zuverlässiger Beamter und es gab nie Probleme, aber es ist bekannt, dass er immer Geldmangel hat. Die Familie hat angeblich ernste finanzielle Probleme und daher wunderte es natürlich alle, dass er sich plötzlich Urlaub nahm und mit der ganzen Familie in die USA reiste.“
„War das, nachdem das Geld verschwunden ist?“
„Eine Weile danach, ja.“
„Wie erklärt Sander Lindholm das?“
„Er sagt nicht sehr viel über sein Privatleben. Insgesamt hat er ein verschlossenes Wesen. Es geht uns ja auch nichts an, was er in seiner Freizeit macht, aber nun, da sein Sohn …“ Harald Andersen rieb sich das spitze Kinn. „Er ist so ein toller, kleiner Kerl.“
„Was sagt der Partner? Der ist wohl der beste Zeuge“, meinte Roland.
Harald Andersen lehnte sich ihm Stuhl zurück, das Leder ächzte bei der Bewegung. „Sein Partner, Bo Kruse, schied kurz darauf aus. Das sorgte auch bei uns allen für große Verwunderung, da er niemandem gegenüber erwähnt hatte, dass er sich mit diesem Gedanken trug.“
Roland erinnerte sich, wie er selbst schweigend seine Überlegungen mit sich herumgetragen hatte, ob er seine Stellung bei der Ostjütländischen Polizei verlassen und Ermittler bei der DUP werden sollte, daher wusste er, dass das nichts bedeuten musste.
„Was macht er denn mittlerweile?“
„Er ist nach Kopenhagen gezogen, soviel ich weiß, hat seine Frau dort einen Job bekommen. Er hat eine Weile bei der Kopenhagener Polizei gearbeitet, aber nicht besonders lange. Er hat später seine eigene autorisierte Wachfirma eröffnet, Kruses Wach- und Sicherheitsdienst in Silkeborg. Vielleicht hatte er gespart.“ Harald Andersen hob die Augenbrauen.
„Dann steht der Partner also auch unter Verdacht?“, fragte Mark.
Andersen beugte sich wieder vor und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. „Das sind nur Verdächtigungen. Ich habe nichts Handfestes, und wäre Janus nicht gekidnappt worden, hätte ich es vielleicht einfach auf sich beruhen lassen, aber falls es dazu beiträgt, ihn zu finden, muss dem nachgegangen werden.“
„Wie viel Bargeld ist verschwunden?“, wollte Roland wissen.
„Das ist unsicher, aber wohl genug um dafür zu töten. Nach der Verhaftung der vier Mitglieder gab es Unruhe in der Bande. Ein ranghohes Mitglied der Bande wurde erschossen, weil es verdächtigt wurde, das Geld gestohlen zu haben. Die Vernehmung der vier Inhaftierten hat das ans Licht gebracht. Einer von ihnen bat uns, in den eigenen Reihen zu gucken, und behauptete, er habe an dem Abend irgendetwas gesehen, aber dann knickte er ein. Sicher aufgrund von Drohungen von den anderen Mitgliedern, die nicht wollen, dass wir tiefer in dieser Sache graben. Sie wollen ihre Auseinandersetzungen am liebsten auf ihre eigene Art klären.“
„Wir fahren zum Krankenhaus und reden mit Sander und Alberte Lindholm. Ich hoffe, Sie finden ihren Sohn wohlbehalten.“ Andersen nickte ernst.
Zum Glück war Mark besser darin, sich in riesigen Gebäuden zu orientieren als er, vielleicht, weil Rolands Gehirn bei Krankenhausgeruch fast blockierte. Die Gedanken sprangen erneut zurück zu seinem Klinikaufenthalt in Neapel, das Herz schien zu verkrampfen und ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn. Aber er tröstete sich damit, dass, sollte ihm das Herz stehen bleiben, hier wohl der beste Ort dafür wäre. Vielleicht. Er folgte Mark auf die Intensivstation, genannt ITA2, die sich glücklicherweise im ersten Stock befand.
Die dunkle Seite zeigte sich aufs Schlimmste, als eine Krankenschwester sie zu Sander Lindholms Bett führte und das Werk des Gewalttäters auf grauenhafteste Weise visualisiert wurde. Für Roland gab es keinerlei Zeichen dafür, dass jemand den Wunsch gehabt hatte, der Beamte solle überleben, wie Viktor es angedeutet hatte. Die Gesichtsfarbe ging von blauviolett bis schwarzblau, mehrere Stiche in der Stirn und den Augenbrauen würden ganz sicher Narben hinterlassen, die Nase war gebrochen, die Haut unter den Augen quoll auf, das linke Auge war geschlossen. Das ganze Gesicht war geschwollen von der Flüssigkeit, die das Reparatursystem des Menschen automatisch abgibt, wenn verletzte Regionen vor Stößen geschützt werden müssen. Einen Augenblick lang glaubte Roland, der Beamte sei gar nicht bei Bewusstsein, aber dann zog Mark einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sander öffnete langsam das eine Auge und sah ihn verwundert an, dann kam die Furcht.
„Habt ihr ihn gefunden? Habt ihr ihn gefunden — Janus?“, stammelte er.
„Wir kommen von der DUP und haben nur ein paar Fragen an Sie. Zuallererst möchten wir selbstverständlich unser tiefstes Mitgefühl ausdrücken.“
Roland konnte nicht anders als am Fußende des Bettes zu nicken, obwohl er genau wusste, dass selbst tiefstes Mitgefühl in Sander Lindholms Situation nicht besonders viel half.
Er schloss das Auge