Mit trunkenem Blick stand die Zigeunerin und schaute über die lachenden Gefilde des Odenwalds. Sie hatte eines Berges Gipfel erklommen, schirmte mit der Hand die Augen und schaute hinab über das farbenhelle Wipfelmeer, über blumige Wiesen und klüftiges Felsgestein. Und da sie wohl schon an anderthalb Stunden gegangen und nur wenig gerastet hatten, so warf sie sich nieder in das schwellende Gras, zog ihr Knäblein an die Seite, auf dass es sich wohlig dehne zwischen Herbstlosen und buntem Klee, und stützte das Haupt, das ruhelose, vogelfreie voll Entzücken in die Hand. Da schaute sie noch einmal alle Pracht und Herrlichkeit ihrer Welt, der weiten Natur ohne Menschenhass und Menschenelend, so wie sie in sonniger Einsamkeit zum Troste derer geschaffen war, die hinter Wall und Mauer keine bleibende Stätte suchen durften. Und sie schaute lange, lange, wie der Bergmann zur Sonne aufschaut, ehe er auf Tod und Leben zur Finsternis hinabsteigt. — Da .. horch .. was gellt und schmettert im Wald? Hussaruf, Meutengekläff und wüst Geschrei.
Zinkra springt empor, — ein Zittern und Beben fliegt durch ihre Glieder, ein Todesweh, welches ihr wie bange Ahnung eisig durch das Mark schauert. — Sie lauscht, verwirrt und unsicher, — fasst des Knaben Hand und stürzt in wilder Flucht in den Wald zurück. — Hat sie ein Echo getrogen? Der Lärm nähert sich, anstatt sich zu entfernen, und da sie sich in sinnloser Hast seitlich wendet, schmettert plötzlich ein Horn dicht vor ihr, es knattert und rauscht im Wald, flüchtig Wild bricht hervor, verfolgt von tobender Meute. Hinter einen Knirksbusch reisst die Zigeunerin ihr Kind, drückt es nieder und wirft sich schützend über den Knaben. Schon fletschen die Bracken vor ihr die Zähne, weichen aufheulend zurück und verbellen das seltene Wild. Da erscheint eines Rosses Haupt über dem Gebüsch, ein rotes, dick aufgedunsenes Gesicht mit ein paar Augen, daraus Roheit und Brutalität drohen, wird hinter ihm sichtbar. — Zinkra streckt ihm die gefaltenen Hände voll flehender Todesangst entgegen. Ein böses Lachen verzerrt die wulstigen Lippen, — eine schnelle Bewegung, und der Jagdspiess zischt durch die Luft, der Gauklerin Brust zu durchbohren. Ohne einen Laut, wie eine Blume unter scharfem Sensenschnitt, bricht das braune Weib zusammen. Ihre Hände zucken nach der Brust, dann krampfen sie sich, ein Röcheln und Zittern ... und die Sonne strahlt am Himmel und ein Vöglein jubelt hoch über der Sterbenden in blauer Luft.
Da knattert es von allen Seiten an Rosses Hufen herzu, und der Mörder des schutzlosen Weibes stösst gellend ins Horn und schreit mit lachender Stimme: „Heho, Michel Raak, diesmal hab ich den Königspreis erjaget! Habt Ihr jemals solch ein Wild zur Strecke gebracht? Da schaut die Landstreicherin, die ehrlose, wie sie an des Helzingers sichre Hand glauben musste!“
Michel Raaks Lachen dröhnt im tiefsten Bass und findet ein Echo bei den Weidgesellen, welche sich von den Pferden schwingen, die seltene Beute näher zu schauen, schon aber ist ihnen ein anderer zuvorgekommen. Sein Apfelschimmel schnauft im Zügel, und die hohe, würdige Männergestalt mit dem schwarzen Knebelbart und dem langgelockten Haar neigt sich hastig über die Zigeunerin, voll Zorn und Entrüstung zu schauen, ob er die Untat durch schnelle Hülfe ungeschehen machen kann. Umsonst, vor ihm liegt eine Tote, und da er sie emporrichten will, erhebt sich ein gellend Wehgeschrei, — des Weibes Knäblein, welches mit angstverzerrtem Gesicht aus den roten Rockfalten der Mutter hervorschaut. „Haha! heben wir auch noch das Nest mit der Brut aus?“ — schreit Peter Helzinger, „mach dich zur Seite, Gevatter, auf dass ich mit diesem Gewürm auch ein Ende mach, — sonst schnappt mir der Michel noch die Beute weg!“
Jammernd klammert sich der Irregang an den Mann mit dem Knebelbart, und dieser hebt jählings den Knaben auf den Arm, tritt mit blitzendem Auge vor den Bürgermeister von Zwingenberg und ruft mit einer Stimme, halb erstickt in Zorn und Abscheu: „Wenn Ihr dieses wehrlose Kind würget, so treffet meine Brust mit! — Pfui der Pest über Männer, die Menschenfleisch auf die Strecke liefern!“
„Hoho! Zigeuner sind keine Menschen, sind schlimmer wie das liebe Vieh, denn man heisset sie ehrlose Zauberer und Hexenmeister und hat sie für vogelfrei erklärt!“
„So ein Schandbub sie mordet, ist’s eine Greueltat, die der Herrgott anschreiben wird, wenn es kein weltlich Gericht dafür gibt! Ihr aber, Peter Helzinger, seid ein Christ und hättet nicht Menschenblut vergiessen sollen!“
„Haha! der Tugendspiegel hält wieder einen gar ergötzlichen Sermon!“ spottete Raak, „bist ein guter Kerl, Freundchen, aber kein Weidmann. Wer einen solchen Schinder und Gaukler antrifft, den jucket es in den Fingern, solch stinkend Lebenslichtlein auszublasen!“
„Ist die schwarze Hex’ abgefahren zur Höllen?“
„Maustot, Peter Helzinger!“
„So mag sie der Füchse Frass sein, wenn sie nicht zwischen Has und Rehlein aufgelegt werden soll.“
„Und der Bub, der braune Landstreicher? He, Gevatter, willst ihn an Sohnesstatt nehmen und ihn ehrbar machen, auf dass solches Gesindel fein sorglich grossgezogen und aufgespart werde?“
Abermals ein allgemeines Gelächter; der Angeredete aber setzte das zitternde Kind zur Erde, fasste seine Hand und hob stolz das Haupt: „Da du es fragst, Peter, magst du’s wissen. Da man dem Kind die Mutter gemordet, wäre es ein teuflisch Beginnen, es auszustossen oder es der Alten nachzuschicken. Da schaut sein fröhlich Schellenhemdchen, es ist gewiss ein artig Spassmacherlein und weiss die Leute zu ergötzen. Meine Walpurg daheim aber ist ein gar verwöhnt Prinzesslein, hat erzählen hören vom Hofnarr, den man der Königin Isold gehalten, und wünscht sich solchen Lustigmacher. Der Kleine hier ist mein Eigentum, ich schenk ihn drum dem Töchterlein zum Hausgesind.“
„Hollah! Solches ist ein närrisch Beginnen! Aber du hast recht! Wohlauf denn, lass das Kasparlein zeigen, ob es artige Schelmstücke kann!“ und hart gegen Irregang vortretend, schrie er ihn mit gewaltiger Stimme an: „So geh’ herfür und mach dein Späss, und falls du ein tauglicher Possenreisser bist, magst du leben, sonsten aber schlagen wir dich tot!“
Da rang es sich wie ein Jammerschrei der Verzweiflung von des Kindes Lippen: „Jû nârro! jû nârro!“ Die bebenden Glieder überpurzelten sich in eingelernter Weise, und wie die Weidgesellen und Ratsherrn über die drolligen Kunststücke lachten, hob sich der Irregang wieder auf die Füsse, tanzte einher neben dem blutenden Leichnam der Mutter und sang mit tränenerstickter Stimme und zitternden Lippen seine lustigen Narrenlieder. Diese waren im derben Geschmack der Zeit, und darum fand Peter Helzinger ein grosses Wohlgefallen daran und rief im dröhnenden Bass: „Beim Satanas! So du diesen kleinen Hallunk nicht bereits für dich zu eigen genommen hättest, Gevatter, würd ich ihn jetzt selber mit mir führen, den Hanswurst in meinem Haus zu halten!“
Da schoss unbemerkt unter des Knaben gesenkten Wimpern ein Blick zu dem Mörder der Mutter empor, der barg eine furchtbare Prophezeiung; der gütige Mann aber mit dem Knebelbart nahm Irregang abermals auf den Arm empor und fragte ihn: „Willst du mit mir gehn, Büblein, und meiner kleinen Tochter dienstwilliger Hofnarr sein, so soll’s dir gut gehn in meinem Hause und sollst sesshaft sein und eine Heimstätt’ haben!“ Ein halberstickter Laut rang sich von des Kleinen Lippen, er schlang jählings die Arme um den Hals des Ratsherrn und rief: „Ja, Herr Konrad Pfalz, mit Euch will ich gehn, und Euch will ich gehorchen! Denn Euch hat mein Mütterlein gesegnet, bevor sie Euch geschaut!“ —
Ein grosses Staunen erhob sich unter den Umstehenden, und Herr Konrad schaute überrascht in des Knaben dunkeläugig Angesicht und fragte: „Woher weisst du meinen Namen, da du mich doch zum ersten Male erblicktest!“
Da sprach Irregang in der geheimnisvollen Weise, welche er von Zinkra und Goykos gewohnt war, wenn sie eine Wissenschaft verwerten wollten: „Siehe, Herr, dein Name ist lebendig, und die Blätter im Wald sind Zungen, die ihn sprechen! Du bist gut und brav, und darum nennet dich alle Kreatur und die Sonne leuchtet auf deinem Haupte heller, denn auf andern!“