3. Die Handelnden: Zur Kreativität der Verantwortung
„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“, dichtet Kurt Marti.11 Bei der Transformation unserer Kirchen und Gemeinden hin zu zukunftsfähigen Gestalten spielen risikobereite Verantwortliche, Pioniere, Kundschafterinnen, Anstoßgeber auf allen Ebenen eine Schlüsselrolle: Es sind die mit der Initiative, die Multiplikatorinnen und Leitungsverantwortlichen. Aufbrüche beginnen mit den Vernetzungen bestimmter Typen von Gemeindegliedern, Wachstum von Gemeinden und Erfolg von Projekten hängen ab von bestimmten Schlüsselbegabungen der Verantwortlichen.
Hier ist eine auffällige Weiterentwicklung gegenüber dem lange vorherrschenden strukturellen Denken zu beobachten: Einzelnen Akteuren kommt in Veränderungsprozessen eine viel größere Rolle zu, „als ihnen lange Zeit – in welcher das Forschungsinteresse zumeist auf die Grenzen des Handelns und systemische Emergenzeffekte gerichtet war – zugestanden worden ist“.12 Initiative Personen können größere Gruppen motivieren, Transformationen auslösen, Umbrüche begleiten und durch die langen Strecken der Wüste das Ziel im Blick behalten. Sie sind Multiplikatoren, vermitteln zwischen abgeschlossenen Gruppen. Sie praktizieren die „Stärke der schwachen Bindungen“ (nach Mark Granovetter13), also die Stärke von Kontakten, Bekanntschaften und Begegnungen. Enge Freunde, tiefe Beziehungen beschränken uns mit ihren starken Bindungen auf die eigene kleine Welt, aber je mehr Bekannte man hat, desto mehr Einfluss ist möglich, denn Bekannte leben noch in ganz anderen Welten. Gemeinden tendieren zu starken Bindungen – gut für alle, die dazugehören, schlecht für die anderen, also für die Reichweite und für die Mission. Initiative Personen leben in vielen schwachen Bindungen, bauen Brücken zu anderen Gruppen, sind Verbindungen in Netzwerken.
In der Change-Management-Forschung werden diese Schlüsselpersonen von Veränderung Heroes genannt, Pioniere des Wandels, change agents: „Sie verbreiten Innovationen, indem sie eine Politik des ‚Weiter-so-wie-bisher‘ hinterfragen, eine alternative Praxis schaffen und somit etablierte Weltbilder und Pfade in Frage stellen, Einstellungs- und Verhaltensmuster herausfordern sowie bei neuen Gleichgesinnten (followers, early adopters) eine dauerhafte Motivation zum selbst tragenden Wandel schaffen.“14
Es gibt verschiedene Funktionen und Typen der change agents, die sich überlagern können. ‚Welt im Wandel‘ kennzeichnet deren Rolle sowohl bei Innovation wie bei Umsetzung so: „Im Innovationszyklus handeln Pioniere des Wandels, indem sie offene Fragen und Herausforderungen benennen und auf die Tagesordnung setzen, indem sie als Katalysatoren Problemlösungen erleichtern, indem sie als Mediatoren zwischen Konfliktgruppen vermitteln oder in Gruppen blockierte Entscheidungsprozesse freisetzen, indem sie disparaten Innovationsbedarf zusammenfassen oder indem sie zur Problemlösung notwendige institutionelle Innovationen ‚von unten‘ oder als Entscheidungseliten ‚von oben‘ auf den Weg bringen. Im Produktionszyklus betätigen sich Pioniere des Wandels als Erfinder, Investoren, Unternehmer, Entwickler oder Verteiler neuer Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, aber auch als ‚aufgeklärte Konsumenten‘, indem sie neue Produkte nachfragen und zirkulieren lassen.“15 In kirchlichen Umbrüchen werden sie auf allen Ebenen benötigt und brauchen ihre Freiräume.
Pioniere des Wandels sind unersetzlich: Sie bilden auf der Mikroebene das Gegengewicht zu den allgegenwärtigen Vetospielern, ähnlich wie Aufbruchsstimmung auf der Mesoebene Verlustaversionen auffängt und Innovation auf der Makroebene Kulturbarrieren überwindet.16 Eine Übertragung auf unsere drei Ebenen Gemeinde, Kirchenbezirk und Landeskirche liegen nahe. Wir im ZMiR suchen bundesweit nach Pionieren des Wandels, weil wir auswerten wollen, was sie wagen, weil wir sehen wollen, was sie richtig und was sie falsch machen – von beidem können viele andere lernen. Interessanterweise hat die anglikanische Kirche inzwischen landesweit einen eigenen pastoralen Ausbildungsgang für Pioniere (pioneer ministry) eingerichtet – eia, wären wir da.17
Mit ihren Haltungen und ihren Möglichkeiten können Leitungsverantwortliche Kreativität in Kirche und Gemeinden unterstützen, zwei Faktoren werden dabei oft unterschätzt. Der eine Faktor ist ein größtmögliches Maß an Freiwilligkeit. Es gibt vor, neben und nach allen verpflichtenden synodalen Mehrheitsentscheidungen ein weites Feld von veränderungsrelevanten Entscheidungen und Prozessen, die nicht von 100-Prozent-Teilnahme abhängen, wo eine einladende Freiwilligkeit aber Klima, Kultur und Wirkung von Veränderungen entscheidend mitbestimmt. Freiwillige Prozesse setzen auf die Gewinnung von Menschen, auf ihre Motivation und Leidenschaft, auf ihre Einsicht und Partizipation. Wer so gewonnen ist, wird nicht zähneknirschend oder mit dem geringstmöglichen Einsatz mitmachen, sondern sich die Anliegen zu eigen machen und sein Bestes geben. Einfach gesagt: Kreativität geht nur freiwillig. Umgekehrt: Wer zunächst zurückbleiben darf, kann durchaus später durch den Sogeffekt noch an Bord kommen – vorausgesetzt, es gibt weitere Zustiegsmöglichkeiten in Veränderungsprozessen. Der Gewinn, die guten Ergebnisse oder Leidenschaften anderer haben ihre eigene langfristige Attraktivität: „Wenn die das haben, wollen wir das auch haben.“
Ein weiterer Schlüsselfaktor ist ein größtmögliches Maß an Kommunikation. Trotz aller unserer Papiere und Texte sind Menschen erschreckend uninformiert, bleiben unbeteiligt, sowohl im Vorfeld als auch während oder im Nachgang von Entscheidungen. Hier gibt es eine Art von kollektiver evangelischer Beschluss-Illusion: Wir glauben an die Selbstwirksamkeit von synodalen Beschlüssen und an die Selbstevidenz von kirchlichen Texten. Die Kirche des Wortes tritt vor allem als Kirche der Texte auf. Aber das bleibt eine Illusion: Gewonnen werden Menschen nicht zuerst durch Information, sondern durch Kommunikation. Jeder „Transformationsprozess ist zum Scheitern verurteilt, wenn ‚Experten‘ auf die Selbstevidenz der Vernünftigkeit ihrer am grünen Tisch erarbeiteten Vorschläge setzen und ‚Laien‘ durch Informationskampagnen und Anreizsysteme veranlassen (wollen), entsprechende Maßnahmen im Nachhinein zu akzeptieren.“18
Die eigentliche Arbeit fängt lange vor der Entscheidung an, der eigentliche Transfer findet v.a. persönlich statt: Wer mich erreichen oder engagieren will, muss mit mir kommunizieren, muss mich aufsuchen, beteiligen und einbinden. Wenn ich jemand von unserer Arbeit im ZMiR berichte, überreiche ich den Veröffentlichungsprospekt selten ohne eine Erzählung aus einem konkreten Projekt. Ich frage auch häufig zurück, z. B.: Worauf würden Sie sich jetzt an unserer Stelle konzentrieren? Denn der fremde Blick ist für die eigene Planung unersetzlich. Und ich versuche, gerade die einzubinden, die nicht alles bestätigen, die kreativen Unruhestifter, die mit dem eigenen Kopf, die abseits der gewohnten Wege. Wir laden z. B. häufig neue Menschen ins Team ein, um mit ihnen Arbeitsvorhaben zu diskutieren, weil wir wissen, zu viele Verantwortliche haben sich schon in ihrem selbstreferenziellen Denken (group think) verrannt.
In Köln endet Kopisch’ Ballade mit einer Klage:
O weh! nun sind sie alle fort
Und keines ist mehr hier am Ort!
Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
Man muß nun alles selber tun!
Ein jeder muß fein
Selbst fleißig sein,
Und kratzen und schaben
Und rennen und traben
Und schniegeln und biegeln,
Und klopfen und hacken
Und kochen und backen.
Ach, daß es noch wie damals wär!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!
In London habe ich etwas anderes gefunden: Den Rechenschaftsbericht des Bischofs von London über den erstaunlichen missionarischen Aufbruch in seiner Diözese, den Richard Chartres nach 20 Jahren vorgelegt hat. Ich habe selten solch eine Kombination von Weisheit, Demut und Klarheit gefunden wie hier.19 Er reflektiert mehrere seiner Schlüsselentscheidungen,