Kreativität im Umbruch bedeutet für die Kirche Annahme einer neuen Situation, Aufbruch zur Eigenverantwortung. Sie bringt Arbeit zusammen mit Motivation, Gaben mit Aufgaben, Herausforderungen mit Ideen. Aber potenzielle Kreativität muss befreit werden, denn sie kann in realen Heinzelmännchen-Fallen feststecken: Etwa in der nostalgischen Verklärung geschichtlicher Privilegien einer ehemaligen Mehrheitskirche; in den Kränkungen durch Desinteresse, Indifferenz und Austritte; im Rückzug auf die verbleibenden Inseln gelingender Kirchlichkeit; in der Selbstsuggestion scheinbarer Bestandsfestigkeit; oder in der illusorischen Rechtfertigung von Nichtteilnahme der Mitglieder als Ausweis evangelischer Freiheit.
Ich will für eine Kirche im Umbruch einen anderen Weg gehen, um gottgeschenkte Kreativität als Ressource zu entdecken: Ich will (1) die Räume der Kreativität abstecken, (2) den absehbaren Mangel als Chance entdecken und (3) eine kreative Typologie der Verantwortlichen vorlegen.
1. Die Räume: Das kreative Feld öffnen
Die Kreativitätsforschung sieht in Freiräumen zum ungewohnten Denken und Handeln einen der zentralen Schlüssel zu kreativen Lösungen: Freiraum, um Neues zu entdecken, das verborgen schlummert; Freiraum, um Sicherheiten zu verlassen und etwas Ungewohntes zu wagen; Freiraum, um Fehler zu machen, die das notwendige Risiko jeder Veränderung sind; Freiraum für unersetzliche Querdenker, die sich nicht einpassen lassen.
2012 legte eine Expertenkommission für die Bundeskanzlerin die Ergebnisse aus dem „Dialog über Deutschlands Zukunft“ vor. Die Untergruppe Innovationskultur stellte fest: „Deutschland ist reich an Innovationskapital und an wissenschaftlichen Ressourcen. Aber es mangelt an einem kreativen Umgang mit unseren Möglichkeiten und Ressourcen sowie an positiven Leitbildern.“ Und sie schlug vor: „Innovationen bedürfen kreativer Freiräume, in denen sie sich entfalten können, und grundlegender Kompetenzen, mit einer unsicheren, aber gestaltbaren Zukunft umzugehen. Dazu bedarf es einerseits Infrastrukturen für Innovationen, die technische und soziale Elemente neu verknüpfen, und Möglichkeitsräume, in denen mit neuen Formen des Innovierens experimentiert werden kann. Andererseits erfordert die Komplexität und Langfristigkeit der relevanten (globalen) Entwicklungen ein strategisches Vorgehen, das die grundlegende gesellschaftliche Kompetenz voraussetzt, mit einer ungewissen Zukunft umzugehen (‚Futures Literacy‘).“ Solche Freiräume ständen bislang nicht ausreichend zur Verfügung, in denen man „Innovation lernen und erfahren“ kann.2
Man kann diese gesellschaftliche Analyse genauso wie den entsprechenden Innovationsbedarf auf die evangelische Kirche übertragen. Wir haben einen hohen Bedarf an Freiraum für Innovations- und Möglichkeitsräume. Möglicherweise haben wir als Kirche in der prophetischen Tradition etwas bessere Chancen, um mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Aber ich bezweifle einen kirchlichen Automatismus, denn Prophetie hat dort die größten Schwierigkeiten, wo sie dem Kontext entstammt: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Haus“, sagt Jesus resignierend über seine Heimatstadt (Mk 6,4). Die Kirche muss wie alle anderen lernen, den prophetischen Widerspruch zuzulassen, zu hören und im Aufbruch gehorsam zu sein.
Freiraum entsteht zwischen Chaos und Effizienz, sagt der Organisationsentwickler Leo Baumfeld: „Vor allem soziale Systeme, die eine Organisation haben, aber nicht darauf reduziert werden können wie z. B. Kirchen, spüren die Dynamik zwischen Ordnung und Chaos. Das nicht Berechenbare soll aus der Sicht der Organisation in eine Ordnung münden. Gleichzeitig leben diese sozialen Systeme auch von der Unordnung, dem nicht Berechenbaren. Die Vielfalt ist die Grundlage dafür, nachhaltig lebensfähig zu sein. Die Ordnung ist die Grundlage dafür, effizient zu sein.“3 Vitalität ist nach Baumfeld da am nachhaltigsten, wo beides in guter Balance ist.
Was fördert Freiräume in der Kirche? Ich meine nicht die individualistischen Freiräume eines protestantischen Jedertut-was-er-will, und von anderen oder von oben lassen wir uns schon gar nichts sagen. Auch nicht die theologischen Freiräume des anything goes, wo evangelisch heißt: „alles ist möglich und nichts ist klar“. Auch nicht die liberalen Freiräume des „Jeder kann glauben, was und wie er will, und wir bleiben irgendwie unter dem Evangelium zusammen“. Auch nicht die orthodoxen Freiräume von „Klare Kante, klare Verkündigung, Schluss mit lustig“, wo die Freude des Evangeliums längst einer verbissenen Rechthaberei gewichen ist. Es geht mir um diejenigen Freiräume, die Gott öffnet. Hier gilt Vorsicht vor jedem Enthusiasmus: Gottes Freiräume entsprechen selten unseren Wünschen, sie führen häufig durch tiefe Wasser oder in dürre Wüsten, ihre Begleitmusik ist Murren und Widerstand. Aber erst sie sind wirklich Frei-Räume, denn unser Schöpfer führt uns zurück in seine Freiheit. Einer öffnet sie, der sich für die Fesseln hingegeben hat, an die wir uns gewöhnt haben. Sie entstehen unter dem liebevollen Werben des Geistes, der uns leise an unsere eigentliche Berufung erinnert.
Was fördert diese Freiräume des Aufbruchs? Ich nenne drei Faktoren.
Zuallererst unsere Basisressource Vertrauen. Es ist eine meiner seltsamen Erfahrungen in den letzten Jahren, dass wir als Evangelische aus Glauben leben wollen, uns auf Vertrauen (fides) als reformatorische Grundkategorie berufen, aber gegen die Frage nach Gottes Leitung und noch stärker gegeneinander ein verhinderndes Misstrauen kultivieren. Viele in der Kirche trauen Jesus keine Zukunft seiner Kirche zu, weil sie selber am Ende ihrer Möglichkeiten sind. Pfarrerinnen und Pfarrer leben untereinander gerne eine gepflegte Skepsis, Gemeinden sehen die Nachbargemeinden als Konkurrentin, die Handlungsebenen in der Kirche begegnen sich vielerorts mit latentem Misstrauen. Wie soll da etwas Neues entstehen, wo Vertrauen nicht gesucht, erhalten und gebaut wird?
Vertrauen ist ein knappes Gut, das sich schnell verbraucht, wenn es nicht ständig gefördert und neu gegeben wird. Viel Kreativität erfordert viel Vertrauen: Vertrauen der Angesprochenen in ihre eigene Begabung durch den Schöpfer, Vertrauen der Verantwortlichen in die mühsamen Innovativen, Vertrauen der Organisation zu den Umsetzern, Vertrauen der Institution in die quer zum System Stehenden, Vertrauen der Innovativen zu denen, die ihnen den Rücken freihalten. Der Freiraum zum Aufbruch stellt ständig die Vertrauensfrage, und wo Vertrauen verweigert wird, schrumpft er.
Außerdem benötigt der Freiraum der Kreativität Neugier, also schlicht Lust auf das, was nicht schon immer so war: Interesse an denen, die noch nicht dabei sind, Neugier auf ungebahnte Wege, Lust zu ungewohntem Verhalten. Neugier war in Köln der Auslöser für den Abschied von einer überholten Vergangenheit: Die neugierige Frau des Schneiders streut Erbsen auf die Treppe, die Heinzelmännchen stolpern und verschwinden für immer. Ein Bild für die unberechenbaren Folgen von Neugier, aber auch für Eigenverantwortung, die Probleme und Arbeit nicht mehr an andere Instanzen delegieren will. Neugier entsteht aus Leiden an Unzureichendem, aus Unzufriedenheit mit zu engen Möglichkeitsräumen, aus nicht akzeptierten Sackgassen.
Und Kreativität lebt schließlich von Freisetzen: Sie ist weder zu befehlen noch zu reglementieren, aber sie wird freigesetzt, wo Menschen Gutes zugetraut wird. Die Bildungsforscherin Teresa Amabile hat Kreativitätskiller bei Kindern erforscht.4 Kreativität wird z. B. verringert durch Beaufsichtigung: Wenn wir unter ständiger Beobachtung stehen. Oder durch Bewertung: Wie beurteilen mich andere? Auch durch Gängelung: Vorschreiben, was wie zu tun ist – Selbstständigkeit und Exploration erscheinen dann als Fehler. Oder durch Einengung der Entscheidungsspielräume, statt Kinder nach Lust entscheiden zu lassen und Neigungen zu bestärken. Druck verhindert Kreativität: Überhöhte Erwartungen an Leistungen. Auch das Vorenthalten von Zeit, also Reglementieren, Unterbrechen und Herausreißen – statt Kinder selbst den Zeitbedarf festlegen zu lassen. Freisetzen eröffnet einen Freiraum für Kreativität – nicht die endlosen Sitzungen unserer Gremienkultur, die Zeit und Personen verschleißen. Sondern