Menschen unter Zwang. Clara Viebig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711466971
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Lächeln hielt sie ihm beide Hände hin: „Du kamst nicht zurück, William, ich muss dir doch noch gute Nacht sagen!“

      „Sehr freundlich von dir. Schlaf wohl!“ Seine Hand machte die gewohnte Bewegung nach der Stirn. „Ich bin auch müde.“ Ihre beiden ihm entgegengestreckten Hände sah er nicht.

      „Ach, Willi, es bewegt mich so, mal wieder hier im Hause zu sein.“ Sie seufzte auf: „Ach Gott, nun ist die gute Elfriede schon so lange tot, über zwölf Jahre. Aber ich sehe noch ihren Sarg unten im grossen Saal stehen mit all den Blumen und Kerzen. Ihr benutzt jetzt den Saal wohl gar nicht mehr?“

      „Wir geben keine Gesellschaften. Ich glaube, es steht jetzt die Wäscherolle drin.“

      Da, wo ihre liebe junge Schwester im Sarg gelegen hatte, da stellten sie jetzt eine Wäscherolle hin? Das war selbst dieser Leichtherzigen zuviel. Waren das kalte Menschen! Die Tränen kamen ihr in die Augen und heisses Rot stieg ihr ins Gesicht; sie hielt nicht an sich: „Ich habe Bade nicht geliebt — die Eltern wollten es, dass ich ihn heiratete — aber das muss ich doch sagen, das Zimmer, drin er gelegen hat zuletzt, das ist mir denn doch heilig gewesen!“

      „Grossmutter hatte das so bestimmt.“

      „Deine Grossmutter ist ein —“ Ingeborg verschluckte ein kräftig bezeichnendes Wort. Aber es hätte William vielleicht beleidigen können, so sagte sie denn nur: „ein herzloser Mensch.“

      Der Enkel nickte schwermütig: „Das ist sie oder scheint es wenigstens zu sein. Aber doch, was fingen wir an ohne sie?!“

      „Sie regiert euch alle. Das ist ja lächerlich, wie ihr euch regieren lasst!“ Nun fing Ingeborg an, sich auch über den Schwager zu ärgern: war der ein Mann? Ah, da war Tom doch ein ganz anderer! Sie wurde auf einmal kritisch: „Du bist grau geworden, William, seit wir uns nicht gesehen haben.“

      Er lächelte müde: „Das glaube ich wohl. Ich bin auch nicht gesund. Alt werde ich nicht, das fühle ich deutlich.“ Er wurde auf einmal mitteilsam; Ingeborg machte ein so mitleidiges Gesicht, sie sagte auch nicht ‚Unsinn‘ und ‚Nimm dich zusammen‘, und das liess ihn gesprächig werden. „Ich habe nicht die Lebenskraft, die Grossmutter noch immer hat. Die hat eine Kraft, eine Kraft! Siehst du, und das macht mich ganz willenlos ihr gegenüber. Es ist schon immer so gewesen, seit ich denken kann. Sie hat an meiner Kindheit Wache gestanden — später auch — du wirst denken: wie ein bissiger Hund; aber gebissen hat sie mich nie. Sie hat mich lieb, auf ihre Weise natürlich. Ich habe sie auch lieb — das wundert dich vielleicht?“ Er sah sie fragend an.

      Aber sie nickte nur flüchtig, das hatte ja so wenig Interesse für sie.

      „Ich habe mich früher manchmal gegen sie empören wollen. Ich habe sie zuweilen fast gehasst. Das ist längst vorbei; ich tue, was sie will. Deine Schwester hat sie mir zur Frau ausgesucht, nicht ich habe die gesucht und gefunden. Aber es war ja gut so. Wenn ich Elfriede nicht so früh verloren hätte, wäre es jetzt besser mit mir — vielleicht!“ Er stiess einen Seufzer aus und runzelte die Stirn. „Freilich, besonders glücklich ist Elfriede nicht gewesen, und ich“ — er stockte.

      Die Schwägerin hatte eine unwillkürliche Bewegung gemacht: wie, die Schwester war nicht glücklich gewesen — eine so reiche Frau?!

      „Mit mir kann niemand glücklich werden“, sagte er tonlos und sah so starr-traurig dabei in eine Ecke, als sähe er sich selber da stehen. „Ich habe ja nicht mal den Willen zum Glück.“

      Es versetzte Ingeborg Bade fast den Atem: um Gottes willen, war das ein schlapper Kerl! Immer der Grossmutter an der Schürze hängen, immer tun, was die sagte! O Gott, nein, das wäre hier doch nichts für sie! So viel Geld gab es ja gar nicht, um das auszuhalten! Ihre Lebenslust empörte sich. Mochte die Mittler denn geniessen, was der alte Drache noch an ihm übrig liess! Sie dankte für diese Reste.

      Frau Ingeborgs hübsches Gesicht verzog sich ein wenig spöttisch. Nun sie ihren Wunsch nach den Millionen plötzlich aufgab, sah sie auf einmal auch deren Besitzer mit ganz anderen Augen an. Ihre Gedanken, die für Augenblicke abgeirrt waren, traten blitzschnell den Rückzug an zu Tom Till.

      III

      Britta, Britta! Lore Längnick dachte sehr viel an die Cousine. Die war noch immer nicht gekommen, und Tante Ingeborg schrieb auch nichts davon, dass die kommen würde. Muss man denn sein Versprechen nicht halten? Tante Ingeborg hatte ihr doch damals bei ihrem Besuch, noch kurz vor ihrer unerwartet schnellen Abreise, fest versprochen, dass sie ihr Britta schicken würde. Nun war es bereits über ein halbes Jahr her, dass Tante Ingeborg sich wieder verheiratet hatte. Sie hatte doch gesagt, so grosse Kinder im Hause zu haben in einer jungen Ehe wäre nicht angenehm — also warum war Britta noch nicht hier? —

      „Ich denke, die kleine Bade sollte herkommen“, sagte heute auch die Urgrossmutter, „warum kommt sie denn nicht?“

      Lore schoss die Röte ins Gesicht: dass Britta nicht längst hier war, das kam nur daher, weil die Urma Pensionsgeld verlangt hatte — oh, es war abscheulich! Ihre sonst so sanften Augen bekamen Feuer, sie funkelten die Urgrossmutter an.

      „Was siehst du mich so an?“ Unwillkürlich musste Friederike Längnick lächeln; es war nicht das gewohnte, kaum merkliche Mundverziehen, es war ein richtiges, nahezu freundliches Lächeln. Es befriedigte sie, dass die Augen des Mädchens funkelten. Sieh mal einer an, diese sanfte Taube, wie Pastor Kimmel sie nannte, die immer gleich scheu nach dem Vater blickte und auch nach ihr, wenn ihr einmal ein Lachen herausfuhr, die konnte auch böse werden?! Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus.

      Lore sass am Fenster und stickte; es sollte ein Kissen werden für den Vater. Draussen war noch Schnee, er lag auf den Bäumen des Parkes und belastete deren Äste schwer. Flockiger Märzschnee hatte schaumig den Rasenplatz und die Blumenbeete vorm Hause wie mit einem Federbett überdeckt und sich auf den Fensterbrettern zu hohen Polstern aufgeschichtet. Vom Wirtschaftshof herüber kein Laut zum Herrenhaus. Was der gnädige Herr oft als störend empfand, das Poltern der Karren, das Surren der Häckselmaschine, das Gegacker und Krähen der Hühner, das Muhen der Kühe, von all diesen Stimmen des ländlichen Betriebes heute nichts zu hören. Der Schnee erstickte sie, hatte gleichsam alles Leben begraben. So war es schon seit Tagen. Und es schneite noch immer. Sehnsüchtig dachte Lore: wenn ich doch jetzt Britta hätte, um mit ihr draussen Schneeballen zu machen! Der grosse Weiher im Park war auch noch zugefroren, man könnte ihn kehren lassen und Schlittschuh laufen. Man könnte auch eine Schlittenfahrt machen, die Post holen mit den Ponys — ach, was könnte man alles, wenn man nicht so allein wäre! Fräulein Mittler war seit acht Tagen fort, der Vater war im Sanatorium bei Berlin, er hatte sie nachkommen lassen, weil er sich nicht gut fühlte, er wollte nicht allein sein. Ach, die arme Doris, sie hatte geweint, als sie so plötzlich fort musste, und sie selber hatte auch geweint. Es war zu traurig, kein Abendstündchen mehr, an dem sie mit Doris dem Sausen des Windes horchte, der um die Schlossmauern strich. Es hörte sich behaglich an, wenn man zu zweien war, aber jetzt so allein — schrecklich. Es nutzte nichts, dass man sich dann ins Bett verkroch bis über die Ohren, man hörte ihn doch. Am Tage war er still, aber sowie es Nacht wurde, fing er mit seinem Heulen an. Er klagte und winselte, er rutschte den Schornstein herunter, er raschelte hinter den Tapeten, er drückte gegen alle Türen; man musste die zuschliessen, damit sie nicht aufsprangen. Er fegte über den langen und breiten Gang, der leer war und hoch, weil er durch zwei Stockwerke ging bis hinauf, wo die Dienstmädchen und die Mamsell schliefen, wo Vorratskammern waren und die Nähstube. Er schlich sich von da wieder die Treppe hinunter bis in die Diele mit den Hirschgeweihen, den vielerlei Gehörnen und ausgestopften Vögeln, die die Urma von dem früheren Besitzer mitgekauft hatte. Lore dachte daran, wie sehr sie sich als Kind vor dem Kauz mit den grossen Augen und vor dem Habicht, der die Flügel spreizt und den Schnabel aufreisst, gefürchtet hatte; am meisten aber vor der Wildkatze, die auf einem Brettchen über der Tür zum grossen Saal stand, ein armes Häschen unter den Krallen. Ach, das eklige Raubtier! Sie hatte immer noch eine gewisse Scheu.

      Ach, es war sehr schön, auf dem Lande zu leben, schön die Felder, der Wald und die fernen Berge, aber im Winter müsste man Menschen um sich haben, Menschen sehen, Menschen sprechen, sich an Menschen anschmiegen können!