Menschen unter Zwang. Clara Viebig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711466971
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Mund war ganz nahe dem seinen.

      „Nein“, sagte er plötzlich voll ungewohnter Energie, „ich habe dich lieb. Heiraten —?! Ich bin dir viel zu dankbar dazu.“

      II

      Ingeborg Bade war eine schöne Frau. Und lebenslustig auch — warum auch nicht, sollte sie ewig ihrem verstorbenen Gatten, dem Apothekenbesitzer Bade, nachtrauern? Die böse Welt der Stadt, die nicht so gross war, dass man sich gegenseitig nicht leicht hätte beobachten können, wusste manches über die schöne Witwe zu erzählen. Schon als Bade noch lebte, hatte sie Liebhaber gehabt. Der gute Bade rührte hinten im Laboratorium seine Mixturen, studierte, die Brille vor den kurzsichtigen Augen, sorgsam die Rezepte, und vorn im Verkaufsraum sass Frau Bade, elegant angezogen, an der Kasse und tauschte mit dem Provisor zärtliche Blicke und rasche zärtliche Worte. Wie man behauptete, hatte sie noch viel mehr mit ihm getauscht. Ein hübscher, flotter Mensch, dieser Provisor. Aber bei Ingeborg Bade war es so, sie musste immer Abwechslung haben. Nach dem Provisor war es der Polizeihauptmann, mit dem ritt sie sogar aus. Wenn es dann hernach zu Ende war, fragte sie nicht viel danach, ob die Herren diskret waren oder nicht; wenn man ihr dies und das hinterbrachte, was die gesagt haben sollten, warf sie den Kopf zurück und lachte: „Ist ja gar nicht wahr!“ Sie leugnete nichts, war auch nicht beleidigt, es schmeichelte ihr im Gegenteil, dass man sich so mit ihr beschäftigte; sie kam sich interessant vor. Der reiche Gutsbesitzer Vennhof war auch einer von ihren Anbetern. Er war auch mit dem Ehemann sehr befreundet gewesen; der Verkehr war äusserst rege, allwöchentliche Besuche und Gegenbesuche wechselten sich ab.

      Auf Vennhofs Jagd war es auch, dass der gute Bade verunglückte. Die Freunde sassen auf Anstand, einer nicht allzu weit vom anderen entfernt; es war grauender Morgendämmer. Gott weiss, was den Apotheker angekommen sein mochte, dass er auftaumelte, sich geduckt an den Büschen entlang schlich. Der Jagdfreund hatte geglaubt: ha, der Rehbock! Sein Schuss fiel. Aber es war kein Rehbock, der fiel. Trotzdem sollte Vennhofs Verhältnis mit Frau Bade noch fortgedauert haben. Man hatte ihn in Berlin mit ihr zusammen gesehen. In einer Tanzdiele. Aber es konnte ja auch eine Täuschung sein, es gab in Berlin viele Frauen, die sich so schick kleideten wie die Bade; die reine Uniform: Kleid, Hütchen, leicht getönte Wangen und dasselbe Lächeln. Es konnte ebensogut eine andere gewesen sein, die mit einem beleibten Agrarier Sekt trank. Frau Bade behauptete, seit Jahren nicht mehr in Berlin gewesen zu sein. Und Vennhof dachte ja auch gar nicht daran, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. —

      Aber jetzt hatte Ingeborg Bade ernste Absichten, sie war es nun müde, in der Leute Mäuler zu sein. Sie lachte nicht mehr darüber, sie weinte sogar, denn die Vierzig nahten. In einer Gesellschaft hatte sie einen Herrn kennengelernt, der ihr sehr gefiel. Es wurden allerlei Spiele gespielt, und da war es ganz merkwürdig, was dieser junge Mann für ein Talent entwickelte; eine seltsame Gabe. Er ging hinaus, ausser Seh- und Hörweite, und es wurde etwas für ihn versteckt. Ihr Taschentuch. Man legte es in den Flügel, ganz hinten auf die besponnenen Saiten, und schloss den Deckel wieder. Als er dann hereingerufen wurde, ersuchte er sie um ihre Hand, fasste die ganz fest mit Daumen und Zeigefinger ums Gelenk, da wo der Puls sitzt, und bat sie, nun ganz intensiv an den versteckten Gegenstand zu denken. Sein kühnes Gesicht verlor das Lächeln, es nahm einen besonderen Ausdruck an, seine Stirn zog sich zusammen wie bei einer Anstrengung, er sagte kein Wort. Sie fühlte ihren Puls unruhig klopfen, er hatte so eiserne Finger, die hielten sie wie in einer Klammer. Nach kurzem Zögern schritt er auf den Flügel zu, rasch, immer rascher, er zog sie förmlich, klappte den Deckel auf, nahm das Tuch von den Saiten und überreichte es ihr mit einer Verbeugung: „Ihr Taschentuch, gnädige Frau!“ War das nicht wunderbar? Wie konnte er es nur so rasch finden und dann gleich wissen, dass es ihr gehörte?!

      „Sie sind ein gutes Medium, gnädige Frau!“ Tief senkte er dabei seinen Blick in den ihren. Es überlief sie: was er für zwingende Augen hatte! Wahrhaftig, dem etwas abzuschlagen würde schwer halten!

      Den ganzen Abend beschäftigten sie sich miteinander. Er war riesig interessant. Konnte er wirklich Gedanken lesen oder war es nur Humbug? Ob er wohl wusste, dass sie sehr wünschte, ihm zu gefallen? „Was denke ich jetzt?“ fragte sie ihn kokett.

      Er lächelte: „Dass ich Ihnen gefalle, gnädige Frau, und dass Sie es wünschen, mir auch zu gefallen.“

      Sie war erschrocken. „Hm“, sagte sie nur und nickte.

      Als die Gesellschaft aufbrach, bat er, sie nach Hause bringen zu dürfen. Sie hatte sich schon oft nach Hause bringen lassen, aber so wie heute war es doch noch nie gewesen. Mitternacht war vorbei, der Mond schien, langsam gingen sie durch die menschenleeren Strassen. Immer langsamer schleuderten sie. Ah, sie schien ihm doch sehr zu gefallen, und er gefiel ihr auch immer besser! Ingeborg Bade fühlte ihr Blut sich erregen. Er hatte ihr den Arm geboten, sie sei müde, hatte sie gesagt; es war auch so; sehr müde, ganz schlasf. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, nun drückte er ihren, unterm Pelzmantel nackten Arm fest an sich. Wie einen Strom fühlte sie es von ihm zu sich hinüberrinnen.

      Er fing an, vom Krieg zu sprechen. Natürlich war er mit dabeigewesen — krach, krach, Achtung, Granate! Ein Splitter hatte ihn am Arm schwer verletzt. „Da lag der Fetzen Fleisch, ein Stück von mir! Ich habe mich noch danach bücken wollen, dass man’s wieder anpappen konnte — aber dann fiel ich doch um.“

      „Haben Sie einen Mut! Gott, was für einen Mut!“ Es gruselte sie und verschlug ihr fast den Atem.

      Er lachte: „Ja, ein klein bisschen Courage muss man schon haben! Aber Sie zittern ja, gnädige Frau? Sie brauchen kein Mitleid mehr mit mir zu haben, ich habe noch Schwereres überstanden.“

      „Sie Armer“, sagte sie zärtlich.

      Da küsste er sie.

      An der Haustür trennten sie sich nicht. Sie hatte ihn mit hineingenommen. — — —

      „Also diesmal wollen Sie wirklich heiraten?“ fragte die alte Längnick und sah über den Tisch, auf dem das Abendessen stand, hinüber zur Schwester von ihres Enkels verstorbener Frau.

      Es wurde Ingeborg ganz unbehaglich unter dem scharfen Blick der kleinen schwarzen Augen; sie ärgerte sich, dass sie Unbehagen empfand: was brauchte sie sich vor der zu genieren, Rechenschaft war sie der doch nicht schuldig?! Und doch wurde es ihr schwer, die Kecke und Selbstsichere zu spielen. „Warum denn nicht? Ein reizender Mensch! Und er liebt mich! Wenn man so vereinsamt ist wie ich, darf man da treue Liebe von sich weisen?“ Sie warf einen Blick zu ihrem Schwager hinüber: was machte der denn für ein Gesicht dazu? „Nicht wahr, Willi? Was sagst du?“

      „Gar nichts.“ William Längnick zuckte die Achseln. „Mich geht das ja gar nichts an.“ Es klang fast grob. Dieses verwünschte Frauenzimmer war ihm nun doch auf den Hals gekommen, obgleich Doris ihr geschrieben hatte, ihr Besuch passe jetzt nicht, sie möchte ihn lieber noch etwas verschieben. Sie war doch gekommen, behauptete, diesen Brief nicht bekommen zu haben!

      Ohne vorherige nochmalige Anmeldung war Ingeborg Bade heute erschienen mit einem Koffer und viel Handgepäck. Sie hatte ja solche Sehnsucht, eine nicht mehr zu bezwingende Sehnsucht nach dem lieben Güldenaue und seiner friedlichen Abgeschiedenheit, wo man kaum gewahr wurde, dass draussen Krieg gewesen war und noch immer die Welt so voller Unruhe. Und Sehnsucht nach ihrem guten Schwager, der ihr stets ein Freund gewesen war. Einen Freund, ach, den brauchte sie jetzt doppelt und dreifach, stand sie doch vor einer immerhin schweren Entscheidung: sollte sie ‚ja‘ sagen oder ‚nein‘ auf Herrn Tills Antrag? Sie hatte Kinder, eine Tochter von dreizehn, Brigitte war bald ein Backfisch, und dann ein so junger Stiefvater! So viele Jahre ihr guter Bade älter gewesen war als sie, so viele jünger war Herr Thomas Till. Achtundzwanzig. Ein Vierziger würde freilich besser zu ihr passen, aber, aber — sie zögerte, seufzte und sah wieder nach dem Schwager hin. Wenn William wenigstens sagen würde: „Bei dir spielt das Alter keine Rolle, du bleibst immer jung und schön.“ Aber er sagte nichts.

      Die Grossmutter, die sagte etwas. „Also so ’nen Jungen wollen Sie sich zulegen? Na ja!“ Ihre Miene war vielsagend.

      Doris Mittler rückte unruhig auf ihrem Stuhl: wollte die Alte taktlos werden? Lore sass doch am Tisch! Sie wendete sich rasch zu dem Kind, das schön und still neben