Als ich diese Krankheit jener prägenden Zeit in meinem Leben viele Jahre später analysierte und mir klar machte, was eigentlich damals geschehen war, trieben mich eine Menge Fragen um. Wurde ich lediglich von TB geheilt, oder war ich ganz geworden? Waren es nur meine Lungen, die wiederhergestellt worden waren, oder hatte sich mein ganzes Sein und Wesen zum Besseren gewandelt? Ich war wirklich von TB geheilt worden, aber wie? Die weißen Blutkörperchen in meinen Lungen und Lymphknoten hatten die TB-Bazillen irgendwie unschädlich gemacht; aber was war sonst noch geschehen, was mich gesund gemacht hatte?
Mir wurde bewusst: das Jahr 1937/38 war für mich ein ganz besonderes. Ich hatte viel gelernt: meine Lese- und Schreibfähigkeit weiterentwickelt, geduldiges Warten, Kreativität und Fantasie und eine erste Ahnung davon bekommen, später eventuell selbst den Krankheiten zu Leibe zu rücken und anderen das Leben zu erleichtern. Freunde hatten mich besucht. Der Lehrer des zweiten Schuljahrs schickte mir jeden Tag die entsprechenden Hausaufgaben, sodass ich mithalten konnte. Von meinen Eltern erfuhr ich viel Liebe und Fürsorge; sie waren hervorragende Pflegekräfte. Regelmäßige Besuche beim Kinderarzt bestätigten uns, dass wir auf der richtigen Fährte waren.
Rückblickend erkannte ich, dass mein Geist und Verstand gerade in jenem Jahr zugenommen hatten. Das geschah nicht trotz, sondern wesentlich gerade wegen der Krankheit und durch den Beistand von Familie und Freunden. Hat das alles irgendwie auch meiner Lunge und den Lymphknoten in ihrem Kampf gegen die Infektion geholfen? Mir wurde immer klarer, dass das, was mir als ganzer Person widerfahren war, meine Genesung beeinflusst und gefördert hatte.
Mein Medizinstudium
Als ich Jahre später an der Universität Rochester mein Medizinstudium begann, war ich von den großartigen Möglichkeiten der medizinischen Wissenschaft total begeistert und eingenommen. Die erstaunliche Anatomie des menschlichen Körpers, die ungeheure Komplexität des Zusammenwirkens der verschiedenen Organe – alles das faszinierte mich.
Gleichzeitig las ich weiterhin die Bibel und lernte mehr über Jesus. Ich las dort von Heilungen und beschäftigte mich mit diesen konkreten Beispielen des Wirkens Jesu. Vieles von dem schien über das Medizinische hinaus zu gehen, wenigstens über das, was die medizinische Wissenschaft mir gerade zu vermitteln versuchte. Was meinte Jesus, wenn er einer kranken Person sagte: »Dein Glaube hat dich gesund gemacht«? Waren all die Heilungen, die Jesus wirkte, echte Wunder? Oder lagen ihnen – in einigen Fällen wenigstens – Methoden und Prinzipien zu Grunde, die uns auch heute zur Verfügung stehen?
Ich beschäftigte mich immer wieder mit dem Zusammenhang von Medizin und Glaube. Unglücklicherweise gab es niemanden, der mir helfen konnte, denn diese beiden Lebensbereiche wurden sorgfältig auseinander gehalten. Die medizinische Wissenschaft schließt den Glauben aus, denn der Glaube ist nicht wissenschaftlich messbar. (Die Wissenschaft kann den Glauben genauso wenig widerlegen.) Was ich in der Kirche hörte, stand in keinerlei Beziehung zu wissenschaftlichen oder technologischen Erkenntnissen. Ich fand sehr schnell heraus, dass ich nach Meinung gewisser Leute die Kraft Gottes in Frage stellte, wenn ich Wunder vom wissenschaftlichen Standpunkt aus untersuchte. Aber hat Gott denn gar nichts mit den Wissenschaften zu tun? Schließlich befassen sie sich doch mit dem, was Gott geschaffen hat.
Ich bemühte mich nach Kräften, herauszufinden, wie Jesus in dieses Szenario passt. Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich – gerade in meinem ersten Praktikum – im Behandlungszimmer der Station für akute psychiatrische Fälle des Philadelphia General Hospital stand. Durch die großen Glasfenster hatte ich beide langen Korridore im Blick. Ich wusste, wer in den einzelnen Betten eines jeden Zimmers lag. Ich beobachtete einen älteren Iren in einer manisch-depressiven Phase, wie er um einen großen, kräftig gebauten afro-amerikanischen Mann herumtanzte, der, seinerseits völlig unbeweglich, in einer krankheitsbedingten starren Pose die Mitte des Korridors einnahm. Dabei nahmen sie einander überhaupt nicht wahr. Aus meinem Herzen drang eine brennende Frage himmelwärts: Herr, wenn du zehn Minuten auf dieser Station verbringen würdest, du könntest alle diese 40 leidenden Menschen heilen. Kannst du kommen? Seine Antwort war niederschmetternd: Ich bin hier, in dir. Frustriert rief ich aus: Aber was erwartest du, das ich tun soll?
Ich setzte meine Suche fort. Zwei Dinge waren mir allerdings klar:
1. Jesus hat vor 2 000 Jahren Kranke geheilt und wirkte dabei oftmals auch im Zusammenhang mit dem Glauben der Betroffenenin, von Familienangehörigen oder Freunden.
2. Durch die medizinische Wissenschaft werden heutzutage viele kranke Menschen geheilt; aber längst nicht alle und in vielen Fällen nur unvollkommen.
Eine brennende Frage trieb mich um: Jesus hat nicht nur selbst Kranke geheilt; er befahl auch seinen Jüngern, dasselbe zu tun; und sie taten es. Ich war sein Jünger und ich heilte einige von denen, die zu mir kamen. Ich machte mir die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zunutze, die Jesus damals so natürlich nicht zur Verfügung standen. Aber welche Rolle spielte der Glaube in dem, was ich tat? Hat die medizinische Technik den Glauben ersetzt? Oder können Medizin und Glaube zusammenfinden und sich der Person als ganzer zuwenden?
Medizin und der Mensch in Afrika
Einige Jahre später ging ich mit meiner Familie nach Zentralafrika. Als einziger Arzt in einem Buschhospital in der Demokratischen Republik Kongo (von 1971 bis 1997 Zaire) blieb mir keine Zeit für ein geordnetes Sprachstudium. Ich lernte die Kituba-Sprache nebenbei – vor allem während der Arbeit in der Klinik. Ich hatte ganz schnell heraus, wie ich eine Magenschleimhautentzündung diagnostizieren konnte: Wenn jemand – gewöhnlich eine Frau – auf eine Stelle im unteren Brustbereich deutete und dann auf ihren Rücken zwischen den Schultern, wusste ich sofort, was ihr Problem war. Mit meinen begrenzten Sprachfähigkeiten konnte ich ohne weiteres Natriumhydrogencarbonat und Belladonna-Extrakt verschreiben und ihnen die nötigen Instruktionen erteilen: langsam essen, scharfe Gewürze vermeiden, drei Mahlzeiten täglich (als ob das für eine afrikanische Frau das Selbstverständlichste von der Welt wäre). Es vergingen Jahre, bis ich gelernt hatte, dass sich hinter jedem Fall von Gastritis chronischer Ärger, Sorgen, Angst, eine zerbrochene Beziehung oder schwere Trauer verbargen. Eine halbe Tonne Natriumhydrogencarbonat können nie und nimmer die wirklichen Ursachen für die Gastritis beseitigen, denn sie liegen jenseits dessen, was wir mit unserem biochemischem Ansatz ausrichten können.
Ich erinnere mich gut an eine stark unterernährte Frau, der ich mit Eselsgeduld erklärte, welche Sorten Nahrung sie zu sich nehmen sollte, um ihrem Körper wieder auf die Beine zu helfen. Als sie nach drei Wochen wieder kam, fröhlich lächelte und sehr viel stabiler wirkte, war ich überrascht, denn solche rapiden Behandlungserfolge bei chronisch Unterernährten erlebten wir selten. Sie erklärte mir, dass eine der Krankenschwestern sie mit Jesus Christus bekannt gemacht hätte, dass Christus in ihr Herz gekommen sei und dass sie wahre Freude und Frieden gefunden hatte. Ihr Appetit habe sich stark verbessert und sie fühle sich viel kräftiger. Nachdem sie gegangen war, fragte ich mich verwundert, wie ihr neu gefundenes geistlichen Leben und ihr Ernährungszustand in Beziehung zu setzen seien. Es hat lange gedauert, bis ich das herausgefunden hatte.
Das waren nur einige wenige von tausenden Fällen, die mir als Arzt das Gefühl der Unzulänglichkeit gaben. Da saß ich tagtäglich in der Klinik, jahrein, jahraus, behandelte ungezählte Patienten mit chronischen Leiden, die immer und immer wieder kamen, dieselben Medikamente und Instruktionen erhielten und dabei keinerlei Besserung erlebten. Das ließ mich ernstlich fragen, was ich damit wirklich erreichte. Das Krankenhaus war dazu da, Leute zu heilen; aber es kam mir jetzt eher vor wie eine Reparaturwerkstatt. Ich sollte eigentlich Arzt sein, also jemand, der heilt; aber ich kam mir vor wie ein Flickschuster, der das eigentliche Problem gar nicht reparieren konnte. Damals erkannte ich nicht, dass dieses eigentliche Problem, das in Ordnung gebracht werden musste, in mir selbst lag. Das lag aber nicht allein in mir, es lag im ganzen System unserer modernen Gesundheitsfürsorge begründet.