Sind Sie eine Person oder einfach nur eine Ansammlung unterschiedlicher Organe, die durch Haut und Knochen zusammengehalten wird? Sind Sie ein isoliertes Individuum oder sind Sie Glied einer Familie, einer größeren Gemeinschaft, und haben Sie darüber hinaus einen Freundes- oder Kollegenkreis? Sind Sie lediglich eine hochkomplexe Ansammlung von Kohlehydraten, Amino-und Fettsäuren, die irgendwie denken kann; oder sind Sie ein Wesen, das mit anderen geistbegabten Wesen des Universums in Beziehung zu treten vermag?
Wenn Sie einen Arzt aufsuchen, was erwarten Sie von ihm, wie er Sie wahrnehmen soll? Als einen möglichen Fall mit Gallensteinen? Oder als einen potenziellen Herzpatienten? Oder hoffen Sie, der Arzt möge Sie als ganze Person betrachten, mit der etwas nicht in Ordnung ist?
Eine vollständige Person?
Die westliche Kultur hat das Konzept und das Verständnis vom Menschsein radikal verändert. Unsere wissenschaftlichen Errungenschaften machen uns glauben, durch Sezieren und Molekularbiologie könnten wir alles, was für das Menschsein von Bedeutung ist, erklären. Unsere gegenwärtige Kultur und sogar viele unserer religiösen Anschauungen und Praktiken betonen das Individuum und vernachlässigen die Auswirkungen, die Beziehungen auf uns ausüben. Indem wir unserem Verstand und dem Verstehenwollen oberste Bedeutung beimessen, gehen wir viel zu oft davon aus, dass es in unserem Leben und der gesamten Natur nichts gibt, was unser Verstand schließlich nicht doch meistern und folglich manipulieren könnte.
All das hat sich sehr stark auf unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit ausgewirkt. Die moderne Medizin ist mechanisiert und technisiert und in vielen verschiedenen Schubladen untergebracht worden. Wenn Sie krank sind, konzentrieren sich die Ärzte darauf, festzustellen, was aus der Fassung geraten ist und wie es wieder repariert werden kann. Wir registrieren Ihren Namen zusammen mit weiteren persönlichen Daten, um die medizinischen Unterlagen und die Formulare für die Krankenkasse ausfüllen zu können.
Während des dritten Jahres meiner medizinischen Ausbildung arbeitete ich einige Zeit in der Ambulanz. Ich begann meine Runde in der allgemeinmedizinischen Abteilung. Einmal klagte eine Frau mittleren Alters über bereits längere Zeit anhaltende Schmerzen im unteren Rückenbereich. Wir vermuteten ein orthopädisches Problem und überwiesen sie an die entsprechende Klinik. Einige Tage später schickten die Kollegen die Patientin mit einer Notiz zu uns zurück, dass alle Untersuchungen ergeben hatten, dass ihr Rücken, ihre Knochen und Gelenke keine Krankheitssymptome aufwiesen.
Wir schickten sie zur gynäkologischen Klinik. Auch von dort kam sie mit dem Bericht zurück, man hätte keine Anzeichen von Erkrankung ihrer Organe im Becken gefunden. Es folgte die urologische Klinik, und nach ausgedehnten Labor- und Röntgenuntersuchungen wurde weder in ihren Nieren noch in den Harnleitern oder in der Harnblase etwas gefunden. Schließlich kam sie noch in die neurologische Klinik, wo ebenfalls nichts Außergewöhnliches entdeckt wurde.
Als diese Frau zu uns zurückkam, waren drei Dinge klar: Ihre Schmerzen waren nach wie vor vorhanden, ihr Geld war weg und wir hatten ihr nicht helfen können. Sie verließ die Klinik auf nimmer Wiedersehen. Erst später wurde mir klar, dass sich keiner von uns zu ihr gesetzt und mit ihr über ihr Leben gesprochen, versucht hatte, ihr zuzuhören, wie die Krankheit begonnen hatte. Wir hatten uns bemüht, auf ihre Schmerzen einzugehen, und dabei versäumt, sie als ganze Person wahrzunehmen.
Einige Wochen später in der Klinik für Innere Medizin lief es besser. Ich hatte ein richtiges Erfolgserlebnis, als ich Rasselgeräusche über der Lunge einer etwa 60-jährigen Frau vernahm, die über Kurzatmigkeit klagte. Ihre Knöchel und Beine waren geschwollen. Es war klar, dass ihr Herz nicht richtig funktionierte und wir ihr helfen konnten. Wir verschrieben ihr Digoxin, ein Herzmittel aus Digitalis, für die Herzmuskulatur und ein Diuretikum (ein entwässerndes Medikament). Bereits eine Woche später ging es ihr viel besser. Dann nahm ich mir die Zeit, um mit ihr über längerfristige Maßnahmen einschließlich einer Diät mit wenig Salz, kleiner körperlicher Übungen und regelmäßiger Klinikbesuche zu sprechen.
Diese Frau ging zufrieden nach Hause. Ich hatte ein gutes Gefühl. Wir hatten unseren therapeutischen Triumph. Eine Woche später jedoch konnte ich mich weder an ihren Namen noch an ihren Wohnort erinnern. War sie verheiratet? Danach hatte ich gar nicht gefragt. Wie gestaltete sich ihr Leben in der Familie und im Freundeskreis? Könnte es sein, dass sie Stresssituationen durchzustehen hatte, die ihr Herz zusätzlich belasteten? Danach hatte ich nie gefragt. Erst viel später wurde mir klar, dass ich nicht jene Frau, sondern einen Herzmuskel behandelt hatte.
Das biomedizinische Modell
Beim biomedizinischen Modell der medizinischen Versorgung handelt es sich um folgendes: Mediziner lernen, den Menschen als ein biologisches und rein körperliches Wesen zu betrachten. Irgendetwas Biologisches funktioniert in der Physis des menschlichen Körpers nicht mehr und macht einen medizinischen Eingriff erforderlich. Über die Mechanismen, die uns am Leben halten, wissen wir eine Menge: über das Verdauungssystem, unsere Atmung, den Blutkreislauf und andere uns vertraute -ismen.
Wenn der eine oder mehrere dieser Mechanismen nicht mehr richtig funktioniert, sprechen wir von Kranksein und davon, dass wir das, was nicht in Ordnung ist, reparieren müssen. Aber wo in diesem Modell findet sich der Mensch als solcher?
In unserem Körper greifen eine Menge Mechanismen ineinander, wobei vieles falsch laufen kann. Aber als Person sind wir wesentlich mehr als gut oder nicht so gut funktionierende »Mechanik«. Wir können denken, fühlen, kämpfen und hoffen. Wir treten mit anderen Personen in Beziehung und finden darin so oft Freude und Erfüllung; zuweilen sind wir auch enttäuscht und ärgerlich.
Unglücklicherweise brauchen wir Angehörige heilender Berufe meistens zu lange, bis wir wahrnehmen, dass Enttäuschungen und ungute Gefühle unsere biologischen Mechanismen beeinträchtigen können. Auf der anderen Seite können Freude, Lachen und ein erfülltes Leben im Kreis von Freunden und Familie schlecht funktionierende Mechanismen oft besser wiederherstellen als die aufwendigsten Medikamente oder komplizierte Gerätschaften. All das habe ich während meines Universitätsstudiums nicht gelernt.
Meine persönliche Krankengeschichte
Selbst einmal krank zu werden, gehört für einen Arzt zu den wichtigsten Erfahrungen. Ich habe während zahlreicher Krankheitszeiten viel gelernt – nicht so sehr über Biomedizinisches als vielmehr darüber, wie man für die ganze Person Sorge trägt. Dieser Lernprozess begann bereits lange vor Beginn meines Medizinstudiums.
Ich war sieben Jahre alt, als sich ein weiser Kinderarzt die Röntgenbilder meiner Brust anschaute und meinen Eltern sagte: »Euer Danny hat Tuberkulose.« Diese Worte schlugen im Herzen meiner Eltern ein wie eine Bombe, denn das war 1937, ein Jahr vor Beginn des Antibiotika-Zeitalters. TB war eine der häufigsten Todesursachen, vor allem bei kleinen Kindern. Die »Dreifach-Therapie« damals bestand nicht etwa aus drei Medikamenten, sondern aus Bettruhe, gutem Essen und jeder Menge Sonnenschein. Mir wurde ein Jahr Bettruhe verschrieben und wenigstens drei weitere Jahre, in denen ich nur begrenzt aktiv sein sollte. Der Doktor ließ mich wählen: Entweder in ein gut eingerichtetes Sanatorium, knapp 250 Kilometer entfernt und mit entsprechend ausgebildetem Personal ausgestattet, oder zuhause das Bett hüten. Für meine Eltern gab es da nichts zu wählen: Ich sollte daheim bleiben.
Um es ganz vorsichtig zu formulieren: Für einen hyperaktiven Jungen war die Aussicht, ein Jahr lang das Bett nicht zu verlassen, in höchstem Maße deprimierend. Meine Eltern waren zwar hart bei der Einhaltung des Verschriebenen, aber sie glichen das durch viel liebende Fürsorge aus. Ich lernte bald etwas sehr Wichtiges: Eine Krankheit konnte meine körperlichen Aktivitäten einschränken, aber sie konnte nicht meine gedanklichen Aktivitäten, meinen Geist und meine Kreativität beeinträchtigen.
Bücher wurden meine Begleiter. Der umgedrehte Betttisch wurde in ein Schiff verwandelt, mit dem ich über die sieben Weltmeere segeln konnte. Ich entdeckte, dass Jesus mein Freund war, und wir redeten stundenlang miteinander. Wir überquerten den See Genezareth, durchstreiften Wälder und