In einem sozialen Gebilde mit erheblich erweiterten individuellen Handlungsspielräumen bestimmen nun – da jedem Handeln stets eine zeitliche Dimension innewohnt – die ungezählten Einzelentscheidungen der Menschen wesentlich mit darüber, wie sich Zeitnormen und Zeitstrukturen entwickeln, vor allem wenn sie zu Zeit-Routinen oder gar zu Zeit-Institutionen werden. Auch wenn im Alltagshandeln zwischen Beruf und Familie ebenso wie in Bezug auf die großen Dinge des Lebens, etwa auf die individuellen und kollektiven Erwartungen an die Zukunft40 den meisten Menschen dies nicht bewusst ist, stricken sie zumindest auf bestimmten Handlungsfeldern außerhalb des direkten wirtschaftlichen oder staatlichen Zugriffs (s. o.) in bedeutendem Umfang selbst an der Zeitordnung mit, in der sie leben. Markantes Beispiel hierfür ist, wie seit der Verbreitung des Smartphones durch das Zutun aller Beteiligter Dauer, Reaktionsgeschwindigkeit und andere zeitliche Standards der digitalen Kommunikation im täglichen Vollzug neu ausgehandelt worden sind: Mit dem Streben nach einer möglichst hohen Reaktionsgeschwindigkeit setzen sich, dem verbreiteten Ruf nach Entschleunigung zum Trotz, die Individuen zum Teil selbst gewaltig unter Druck.
Die gleichzeitige Zeitstrukturierung durch marktliche und technologische Treiber einerseits und individuelle Zeitpräferenzen andererseits beinhalten, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, nun jedoch keinen Widerspruch, da, wie eingangs gezeigt, die vorangegangenen Strukturierungsmodi gesellschaftlicher Zeitordnungen nicht einfach mit dem Aufkommen neuer verschwinden. Wenn auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung stark eingeschränkt, kämpfen sie bildlich gesprochen in Übergangsphasen um die Hegemonie in gesellschaftlichen Teilsystemen wie auch der Gesellschaft insgesamt. In einer solchen Phase des Umbruchs scheinen wir uns gegenwärtig wieder zu befinden. Dafür sprechen die seit Jahrzehnten anhaltenden Forderungen nach mehr zeitlicher Autonomie und Mitbestimmung, vor allem im Verhältnis Arbeit – Freizeit.41 Schon Mitte der 1970er-Jahre wurde erstmals das Konzept „Zeitsouveränität“42 diskutiert, das als den eigentlich legitimen Gestalter von Zeit im Verhältnis Arbeit – Freizeit das Individuum sieht. Später hat Mückenberger43 diesen Gedanken mit der Propagierung eines „Rechts auf eigene Zeit“, das alle Lebensbereiche umfassen soll, weiter zugespitzt. In anderer Weise offenbart sich das Ringen um Geltungsansprüche zwischen den unterschiedlichen Zeitstrukturierungsmodi bzw. zwischen den darin enthaltenen Zeitlogiken wie erwähnt im Jahrzehnte währenden Kampf um den Erhalt des freien Wochenendes und darin besonders der Sonntagsruhe.44
4 Nachmoderne Zeitlichkeit als Zeitwettbewerb
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auf der (bislang) letzten Entwicklungsstufe neben Königen und Pharaonen, einzelnen Religionsführern, den christlichen Kirchen (Modus 1), den Unternehmen als Verkörperung bzw. als organisatorische Gestalt des Prinzips der Kapitalverwertung, der Logik der industriellen Technologie und nicht zuletzt gegenüber administrativer Willkür (Modus 2) ein neuer wesentlicher Kreator von Zeitstrukturen hinzugetreten ist: Das Individuum (Modus 3). Die dahinterstehende Rechtfertigungsordnung ist geleitet von dem gesellschaftlich inzwischen weithin unwidersprochenen Leitgedanken, dass sich – nicht nur – die Zeitordnung einer (post-)modernen Gesellschaft wesentlich, wenn nicht sogar ausschließlich an den Bedürfnissen des Individuums auszurichten habe. Damit entsteht, konsequent zu Ende gedacht, die Zeitordnung einer Gesellschaft als das mehr oder weniger zufällige Aggregat der Zeitverwendungsmuster ihrer Mitglieder. Gesellschaftliche Zeitinstitutionen bzw. ihrem Wesen nach kollektive Ruhezeiten wie der Sonntag, geraten unter Legitimationsdruck. Der Anspruch an den Vorrang des Individuums im Prozess der gesellschaftlichen Zeitallokation erzeugt, zusätzlich zu den von den ersten beiden Modi hervorgebrachten zeitlichen Anforderungen an die Menschen, neue zeitliche Zwänge, etwa indem eine Liberalisierung der Öffnungszeiten des Einzelhandels in die späten Abendstunden hinein und an Sonntagen nur auf Kosten des Zeitwohlstands der dort Beschäftigten möglich ist: Zu der permanenten, im System der Wirtschaft generierten Zeitkonkurrenz, welche die Gesellschaft prägt, tritt der Wettbewerb der Individuen um die Durchsetzung ihrer persönlichen Zeitinteressen hinzu. Dies führt bisweilen zu einem Zeitdarwinismus45, von dem vor allem die Schwachen, unter anderem alte Menschen und Kinder, besonders betroffen sind.46 Unter anderem darin besteht die Kehrseite eines auf den ersten Blick ja viel Freiheit versprechenden nachmodern-personalen Strukturierungsmodus. Die Bestimmung von Kriterien und Bedingungen zeitlicher Gerechtigkeit47 bleibt eine der aktuellen Problemstellungen der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Zeitforschung.
Der Autor: Jürgen P. Rinderspacher, Jahrgang 1948, Dr. rer. Pol., Studium der Politik, Wirtschaft und Theologie in Berlin; Dozent und Projektleiter am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster; Vorstand und Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik e.V. Forschungsschwerpunkt Sozialwissenschaftliche Zeitforschung; Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zum Thema Zeit und Gesellschaft: „Beeilt Euch!“ Zeitprobleme im sozial-ökologischen Transformationsprozess, München 2020; „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn 2000; Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt a. Main–New York 1985; GND: 1211020428.
Weiterführende Literatur:
– Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. Main 1989. Vertiefung und Weiterführung des Themas Entstehung von Zeitstrukturen unter Berücksichtigung kulturvergleichender Aspekte.
– Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie. Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen, München 2019. Behandelt wird Zeit in Verbindung mit Resonanz als zentrale Kategorie von Nachhaltigkeit. Ein Beitrag zur zukunftsfähigen Fortentwicklung von Zeitstrukturen.
– Jürgen P. Rinderspacher, Mehr Zeitwohlstand! Für den besseren Umgang mit einem knappen Gut, Freiburg i.Br.–Basel–Wien 2017. In 35 prägnanten Stichworten beschreibt der Autor, was ganz unterschiedliche Lebensbereiche des Alltags jeweils mit Zeit zu tun haben und was die Individuen selbst – auch gegen viele strukturelle Hindernisse – zu einem gelingenden Umgang mit der Zeit in der Gesellschaft beitragen können.
1 Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt a. M. 1993, 212 ff.
2 Leofranc Holford-Strevens, Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders, Stuttgart 2008.
3 Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M. 1984.
4 Rainer Forst, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015, 87.
5 Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehungen, Berlin 2016.
6 Rainer Forst, Normativität und Macht (s. Anm. 4), 87.
7 Jürgen P. Rinderspacher, Wege der Verzeitlichung, in: Dietrich Henckel (Hg.), Arbeitszeit, Betriebszeit, Freizeit. Auswirkungen