9 Über das „explizite“ Gedächtnis des Bewusstseins hinaus weist das „implizite“ Gedächtnis des Leibes vielfältige Formen auf. Vgl. Julia Meer, Die Erinnerung des Leibes. Zur Relevanz und Funktion von Leibzeit bei Alzheimer-Demenz, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 5 (2018), 207–230. Siehe auch: Thomas Fuchs, Verkörpertes Wissen – verkörpertes Gedächtnis, in: Gregor Etzelmüller / Thomas Fuchs / Christian Tewes (Hg.), Verkörperung – Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin 2017, 57–78, bes. 66 f.
10 Jean Baudrillard, Die Abschreckung der Zeit, in: Tumult 9 (1987), 109–118, 112.
11 Vgl. den provokativen Buchtitel von Baudrillard: „Das Jahr 2000 findet nicht statt“ (Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt [Merve 156], Berlin 1990). Damit wollte er schon 1990 darauf aufmerksam machen, dass bei übersteigerter Beschleunigung, durch die gleichsam alle Information in der Gegenwart kulminiere, Zukunft in der Gegenwart bereits großteils vorweggenommen und deshalb nicht mehr ausständig sei.
12 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1760), Frankfurt a. M. 2005, 214 und 221. (Hervorh. im Orig.)
13 Laut ICD-10-GM in der Version von 2021 (Vorabfassung) ist Burnout – wie schon in der Version von 2017 – nicht als Krankheit zu führen. Daher ist es in Kapitel XXI, also bei den „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“, gelistet, nämlich unter Z 73. (Deutsches Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-10-GM Vorabfassung 2021, online: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2021/block-z70-z76.htm [Abruf: 26.08.2020])
14 Manuela Pfeffer / Andrea Paletta / Gerald Suchar, Die Zeitdynamik bei Burnout-Patientinnen und -Patienten. Ergebnisse einer Bewegungsanalyse nach Laban, in: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Julia Meer (Hg.), Der Leib und seine Zeit. Temporale Prozesse des Körpers und deren Dysregulationen im Burnout und bei anderen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br. 2019, 337–360, bes. 338 und 353–355.
15 Günther Pöltner, Die zeitliche Struktur der Leiblichkeit, in: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Philipp Schmidt / David Duncan (Hg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Zeiterkrankungen, Freiburg i. Br. 2016, 17–33, hier: 18–23.
16 Martin Heidegger möchte beispielsweise zeigen, dass „das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist“. Zeit müsse „als der Horizont alles Seins Verständnisses [sic] und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht und genuin begriffen werden“. Anders gesagt: „Der Entwurf eines Sinnes von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit vollziehen.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit [Gesamtausgabe 2], Frankfurt a. M. 1977, 24 und 312).
17 Vgl. Günther Pöltner, Die zeitliche Struktur der Leiblichkeit (s. Anm. 15), 25.
Jürgen P. Rinderspacher
Zeiten fallen nicht vom Himmel
Akteure und Modalitäten moderner Zeitstrukturierung im epochalen Wandel
♦ Zeitordnungen sind – in traditionalen wie modernen Gesellschaften – normative Ordnungen, die der Rechtfertigung bedürfen. Der Beitrag unterscheidet drei Epochen mit je unterschiedlichen Modi der Rechtfertigung der Zeitordnung: einen (ursprünglich vormodernen, jedoch teilweise bis in unsere Zeit hineinreichenden) autoritären Modus, einen (im weitesten Sinne „modernen“) marktlich-technologisch-administrativen Modus und einen („nachmodernen“) subjektbezogenen Modus der Zeitstrukturierung. Zwar verspricht eine subjektbezogene Zeitordnung eine Zunahme individueller Freiheitsspielräume, jedoch stellen sich auch neue, weithin unbeantwortete Fragen nach der Konkurrenz nun individueller Zeitansprüche sowie nach Kriterien und Bedingungen zeitlicher Gerechtigkeit. (Redaktion)
„Man könnte sagen, dass die Neuordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei. Eine neu entstandene Macht, die sich behaupten will, muß an eine Neuordnung der Zeit gehen. Es ist, als beginne mit ihr die Zeit.“ (Elias Canetti)
1 Die Macher und die Macht der Zeit
Darüber, ob Gott die Zeit geschaffen hat oder nicht, mag man streiten: Immerhin hat Kirchenvater Augustinus im 4. Jahrhundert n. Chr. davon gesprochen, dass die Zeit mit der Sünde in die Welt gekommen sei und dass der Mensch erst im Reich Gottes darauf hoffen dürfe, von dieser Geisel befreit zu sein.1 Nicht zu leugnen ist hingegen die Tatsache, dass Zeitstrukturen und Zeitordnungen, wie sie uns im Alltag begegnen, seit jeher das Werk menschlichen Handelns sind – geschaffen durch große religiöse, politische oder wirtschaftliche Institutionen bzw. ihre Repräsentanten –, auch wenn diese sich etwa bei der Kreation von Kalendern oder Ritualen nicht selten auf ein höheres Wesen berufen haben.2
Zeitstrukturen sind die gestalthaften Erscheinungsformen von Zeit im konkreten Lebenszusammenhang der Menschen: Da die Zeit ihnen ansonsten als solche, gewissermaßen in ihrer reinen Form kaum begegnet, erfahren sie diese normalerweise als eine vielgestaltige Ansammlung sozialer Ordnungs- und Orientierungssysteme, an denen sie ihr Handeln ausrichten müssen, wollen sie nicht aus der Gesellschaft herausfallen. Bereits dies legt die Vermutung nahe, dass die Fähigkeit zur allgemeingültigen Strukturierung von Zeit in einer Gesellschaft mit Macht und Herrschaft einhergeht, religiöser ebenso wie politischer und wirtschaftlicher. Tatsächlich wird man bei der Suche nach den Kreateur/inn/en und Protagonist/inn/en gesellschaftlicher Zeitstrukturen rasch fündig, wenn man die religiösen Verhältnisse und weltlichen Herrschaftsstrukturen unterschiedlicher Epochen in unterschiedlichen Kulturen bis in unsere Gegenwart hinein betrachtet. Dabei stellt man unter anderem einen historischen Wandel der Art und Weise fest, wie und von wem Zeitstrukturen generiert werden. Wie stellt sich dieser Wandel der Strukturierungsmodi für uns auf der Erscheinungsebene sozialer Tatsachen3 dar und welche Auswirkungen hat er für Individuum und Gesellschaft? Im Folgenden sollen diese Zusammenhänge in der gebotenen Kürze dargestellt werden.
2 Zeitordnungen und Rechtfertigungsordnungen
Die Zeitordnung, die in einer Gesellschaft jeweils vorherrscht, beruht auf einer je unterschiedlichen Rechtfertigungsordnung. Rainer Forst erklärt deren Bedeutung so: Alle „normativen Ordnungen“ einer Gesellschaft beruhen auf basalen Rechtfertigungen und dienen dementsprechend der Untermauerung von sozialen Regeln, Normen und Institutionen; sie begründen Ansprüche auf Herrschaft und eine bestimmte Verteilung von Gütern und Lebenschancen. „Normative Ordnungen setzen Rechtfertigungen voraus und generieren sie zugleich.“4 Als wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaftsordnung benötigen auch Zeitordnungen einen Begründungszusammenhang auf einer höheren Ebene. Derzeit erleben wir in den vielgestaltigen Kritiken an der herrschenden Zeitordnung eben genau jene Infragestellung